Antrag zum LA am 16.12.2020: Verantwortung ernst nehmen – Bedrohte afghanische Ortskräfte und ihre Familien aufnehmen

07.12.20 –

In Afghanistan arbeiten seit Jahren afghanische Ortskräfte an der Seite deutscher Soldat*innen, Polizeikräfte, Mitarbeitender der Entwicklungszusammenarbeit sowie Diplomat*innen. Ohne den Einsatz der Dolmetscher*innen sowie anderer Ortskräfte wäre weder die Tätigkeit der Bundeswehr, noch die des Auswärtigen Amts, des Bundesministeriums des Innern, für Bau und Heimat oder des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung in Afghanistan möglich. Der Einsatz dieser Menschen und ihr Wille, auch Leib und Leben zu riskieren, belegen eindrücklich, welchen Preis viele Afghan*innen für die Verteidigung von Frieden und Demokratie bereit sind zu zahlen.

Afghan*innen haben sich in den Dienst deutscher Ministerien gestellt in dem Vertrauen darauf, dass sie während und nach Beendigung ihrer Tätigkeit unter dem Schutz Deutschlands stehen. Trotzdem ist die Aufnahme afghanischer Ortskräfte in Deutschland nicht nur fast zum Erliegen gekommen, es sind auch alle Familienmitglieder über die Kernfamilie hinaus von der Möglichkeit ausgeschlossen. Dabei hat die Bundesregierung die Ursache für die besondere Bedrohung auch für die Angehörigen der Ortskräfte erst gesetzt.

Ortskräfte werden von den Taliban häufig als Kollaborateure und Verräter gesehen und sind deswegen in vielen Fällen der Verfolgung ausgesetzt. Die schwerwiegende Bedrohungslage wird auch in den UNHCR Guidelines zu Afghanistan bestätigt. Die Ortskräfte vertrauen den deutschen Institutionen, deren Arbeit sie vor Ort ermöglichen, ihre eigene Sicherheit und die ihrer Familien an. Denn im Kreuzfeuer der Taliban stehen nicht nur die Ortskräfte selbst, sondern auch ihre Verwandtschaft, darunter ihre Eltern, Geschwister, Tanten, Onkel und Schwäger*innen. Diese werden umso stärker bedroht, angegriffen und getötet, wenn die eigentliche Ortskraft das Land verlassen hat. Die Verwandtschaft muss dann für dessen Entscheidung den deutschen Kräften zu helfen, büßen. Einige werden von den Taliban sofort getötet, andere haben „Glück“ und werden zu einer monatlich zu entrichtenden „Strafzahlung“ aufgefordert. Kann die Verwandtschaft nicht zahlen, werden Familienmitglieder immer wieder getötet und verletzt. Eine Aufnahme für diese Personen sieht das Bundesaufnahmeverfahren für afghanische Ortskräfte dennoch nicht vor. Anträge auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis für Familienmitglieder außerhalb der Kernfamilie werden vom Auswärtigem Amt abgelehnt.

Verwandte von afghanischen Ortskräften können bisher lediglich im Rahmen des § 22 S.1 AufenthG einen Aufenthaltsanspruch aus „dringend humanitären Gründen“ geltend machen. Hieran werden jedoch sehr hohe Ansprüche gestellt. Zwar liegt die Aufnahme im Ermessen des Auswärtigen Amtes, sieht dieses aber keinen dringend humanitären Grund in der Bedrohung, Verletzung und Tötung von Familien, deren Angehöriger für den deutschen Staat in Afghanistan tätig sind und beschränkt sich das Aufnahmeprogramm auf deren Kernfamilie, liegt eine eklatante Regelungslücke vor, die nur durch entsprechende Gesetzgebung geschlossen werden kann.

Dabei ist auch die erweiterte Verwandtschaft oft unmittelbarer Bedrohung durch die Taliban aufgrund der Tätigkeit eines Familienmitglieds als Ortskraft ausgesetzt. Die Verwandtschaft selbst hat keine Möglichkeit sich innerhalb Afghanistans, beispielsweise in Kabul, in „Sicherheit“ zu bringen und der Bedrohung durch die Taliban zu entkommen. Als Angehörige eines „Verräters“ stehen sie auf einer sogenannten schwarzen Liste – verlassen sie ihren Wohnort werden sie sofort durch die Taliban getötet.

Das ist nicht nur für die Angehörigen selbst ein Problem – die Trennung von der Familie und die (begründetet) Sorge um ebendiese haben massive negative Auswirkungen auf die nach Deutschland geflohenen Ortskräfte, beispielsweise hemmen sie die Integration. Wer ständig Angst um seine Angehörigen haben muss, hat weniger Kraft aktiv hier in Deutschland anzukommen. Wer sich um seine Familie sorgt, der kann sich nicht auf Integrationskurs, Schule, Ausbildung oder den neuen Job konzentrieren. Zeitgleich sind sie gezwungen, alles erwirtschaftete Geld an die Familie zu überweisen, um die Strafzahlungen an die Taliban zu gewährleisten. Somit werden die afghanischen Ortskräfte indirekt gezwungen die Taliban finanziell zu unterstützen, um das Überleben der Familie in Afghanistan zu gewährleisten.

Deshalb fordern wir:

  • Berlin soll zeitnah ein Landesaufnahmeprogramm mit einem Kontingent von 50 Personen jährlich schaffen, um über die Kernfamilie hinausgehende Verwandte von bereits in Berlin ansässigen oder noch kommenden afghanischen Ortskräften, die über das reguläre Aufnahmeprogramm gekommen sind oder kommen, ebenfalls nach Berlin zu holen. Das Aufnahmeprogramm soll für all jene Verwandten geöffnet sein, die aufgrund der Ortskrafttätigkeit in Afghanistan Opfer von Bedrohung und Verfolgung islamistischer Terrorgruppen wie der Taliban werden. Den Rahmen dafür kann ein Aufnahmeprogramm analog zu den Berliner Programmen für Syrer*innen und Iraker*innen nach §23.1 Aufenthaltsgesetz wegen humanitärer Notlage unter Verzicht auf Bürgschaften bilden.

  • Die aufgenommenen Familienangehörigen sollen einen befristeten humanitären Aufenthaltstitel bekommen und dann in ein reguläres Asylverfahren übergehen. Im Falle einer Ablehnung einer dieser Gruppe zugehörigen Person, ist das Land Berlin in der Beweispflicht, dass kein kausaler Zusammenhang zwischen einer Bedrohung durch die islamistische Terrorgruppen und der Tätigkeit der verwandten Ortskraft vorliegt.

  • Das Land soll sich auf Bundesebene dafür einsetzen, ein vereinfachtes Gruppenverfahren für die großzügige Aufnahme afghanischer Ortskräfte, die für deutsche Institutionen arbeiten oder gearbeitet haben, einzuführen und ihre Angehörigen über die Kernfamilie hinaus darin zu berücksichtigen.