Position der LAG zum Berliner Wahlrecht und seiner Reform

13.06.11 –

In unseren Programmen betonen wir immer wieder, dass wir die Einflussmöglichkeiten der BürgerInnen auf die Arbeit der Parlamente stärken wollen. Deshalb sind wir für Volksbegehren und Volksentscheide, für eine Absenkung des Wahlalters, für ein Ausländerwahlrecht. Aber eine umfassende Reform des Berliner Wahlrechts haben wir noch nicht gefordert.


Reformbedarf

- Hoher Anteil von verfallenen Stimmen

Bei der letzten Abgeordnetenhauswahl waren 13,7 Prozent der Stimmen „Sonstige“ (wir hatten 13,1 Prozent erhalten).

Für die BVV-Wahlen entfielen 11,3 Prozent der Stimmen in Berlin auf „Sonstige“. Am meisten in Pankow mit 14,1 Prozent. Nur in drei Bezirken verfielen weniger als 10 Prozent der gültigen Stimmen.

Diese fast 14 Prozent „Sonstige“ sind ein Alarmsignal. Denn diese Menschen sind zur Wahl gegangen, aber ihre Stimmabgabe wurde in keinster Weise berücksichtigt.


- In anderen Bundesländern können die BürgerInnen differenzierter wählen

Im Gegensatz zu fast allen anderen Bundesländern, in denen bei Wahlen inzwischen kumuliert und panaschiert werden kann, haben die BerlinerInnen bei den Wahlen für die BVV und das Abgeordnetenhaus nur die Wahl zwischen verschiedenen DirektkandidatInnen und einer Liste.

Diese demokratische Benachteiligung der BerlinerInnen bei den Kommunalwahlen ist eklatant. Bei den Landtagswahlen ist der Unterschied vor allem im Vergleich zu den anderen Stadtstaaten offensichtlich.



Diskursiver Vorlauf

2007 und 2008 haben wir intensiv, auch auf zwei Landesausschüssen, über einen Vorschlag von Mehr Demokratie für ein besseres Wahlrecht diskutiert. In vielen Kreisverbänden gab es bei Einzelabstimmungen zu den verschiedenen Punkten ein uneinheitliches Bild. Änderungen, die in einem KV knapp bejaht wurden, wurden in einem anderen KV knapp verneint. Auf dem Landesausschuss vom 9. April 2008 wurde die Initiative differenziert unterstützt:

- Ja zu Ausländerwahlrecht, Wahlalter 16 Jahre, Absenken der Fünf-Prozent-Hürde für Abgeordnetenhauswahlen, Landesliste für alle Parteien, fünf Parteistimmen und der Ersatzstimme.

- Abgelehnt wurden veränderbare Parteilisten und Mehrmandatswahlkreise.

Das Bündnis „Mehr Demokratie beim Wählen“ gab am 14. August 2008 die Unterschrifenlisten ab. Am 23. September 2008 erkannte der Senat nicht alle Teile der Initiative als zulässig an. Am 21. November 2008 erhob das Bündnis dagegen beim Landesverfassungsgericht dagegen Einspruch.

Inzwischen ist die von Mehr Demokratie getragene Initiative vorzeitig abgeschlossen. Die Gründe sind unter anderem die hohe Zahl der für ein Volksbegehren erforderlichen Unterschriften; die Einschätzung der Innenverwaltung, dass die Ersatzstimme und die Mehrmandatswahlkreise verfassungswidrig sind (die Klage dagegen ist noch nicht entschieden) und durch die späte parlamentarischen Bearbeitung war die ursprünglich geplante Kopplung der Abstimmung an die Bundestagswahl nicht mehr möglich.

Im Parlament wurden im Rechtsausschuss die zulässigen Teile der Initiative am 6. Mai 2009 behandelt. Die Grünen und die Linke befürworteten die Vorschläge zur Reform des Wahlrechts.

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Im folgenden werden mehrere Möglichkeiten für eine Reform des Berliner Wahlrechts skizziert. Dabei gibt es eine große Lösung mit der vollständig auf ein Kumulier- und Panaschiersystem umgestellt wird und eine kleine Lösung, die einige Punkte des Berliner Wahlrechts ändern würde.

Es wird nicht zwischen Bezirks- und Abgeordnetenhauswahlen unterschieden.

Die Vorschläge beziehen sich auf die Zweitstimme. Es wird davon ausgegangen, dass alle Parteien mit einer Landesliste antreten.



Umstellen des bisherigen Wahlrechts auf ein Kumulier- und Panaschiersystem

Unter Panaschieren versteht man die Möglichkeit seine Stimmen auf KandidatInnen verschiedener Listen zu verteilen.

Unter Kumulieren oder auch Häufeln versteht man die Möglichkeit mehrere Stimmen auf eine KandidatIn abgeben zu können, um deren Position innerhalb einer offenen Liste zu verbessern.

Normalerweise können WählerInnen gleichzeitig kumulieren und panaschieren.

Dies ist inzwischen bei Kommunalwahlen in den meisten Bundesländern möglich.


Die LAG präferiert eine Übernahme des süddeutschen Modells, das den WählerInnen so viele Stimmen gibt, wie das zu wählende Gremium hat und bei dem maximal drei Stimmen auf eine KandidatIn gehäufelt werden können. Gewählt wird, indem die Wählerin mehrere Möglichkeiten hat:

  • sie kann nur die Liste wählen (Listenkreuz)

  • sie kann ihre Stimmen auf mehrere Kandidatinnen unterschiedlicher Listen verteilen (panaschieren) und bestimmte KandidatInnen mehrmals wählen (kumulieren).

So haben die BürgerInnen in Stuttgart 60, in München 80, und in Frankfurt am Main 93 Stimmen.


Für eine solche Umstellung spricht

WählerInnen können die von ihnen präferierten Kandidatinnen wählen. Dies geschieht in einem erheblichen Umfang. In Baden-Württemberg werden etwa neunzig Prozent der Stimmzettel verändert (in Großstädten weniger als in Kleinstädten). Auch in Hessen, wo 2001 erstmals kumuliert und panaschiert werden konnte, wurde diese Möglichkeit bereits in der ersten Wahl von über vierzig Prozent der WählerInnen genutzt. D. h. die WählerInnen wollen kumulieren und panaschieren.

In Rheinland-Pfalz erhielten 1989, als dort erstmals kumuliert und panaschiert werden konnte, ein Fünftel der Abgeordneten aufgrund des Wahlverfahrens ihr Mandat (und der Frauenanteil stieg).

Der Anteil der Frauen im Parlament (über alle Fraktionen) steigt. Auch für die Grüne Liste trifft dieser Effekt, wie eine Analyse der Ba-Wü-Kommunalwahlen von 1994 zeigt, zu.

Allerdings gibt es eine deutliche Links-Rechts-Differenz gibt. D. h. die Grüne Liste wird eher ohne große Änderungen angenommen und je weiter es nach rechts geht, umso stärker wird die Liste von den WählerInnen verändert.

Unsere Politikerinnen werden bekannter, weil die WählerInnen jetzt mehr Gründe haben, sich ihre Namen zu merken.


Die öfters in Diskussionen angesprochenen Nachteile sind dagegen vernachlässigbar und teilweise empirisch nicht nachweisbar.

So dauert die Auszählung zwar etwas länger, aber am Wahlabend gibt es bereits ein Ergebnis und das vorläufige amtliche Endergebnis wird wenige Tage nach der Wahl, oft am Mittwoch oder Donnerstag nach dem Wahlsonntag, bekanntgegeben.

Auch die Kosten sind überschaubar. „Mehr Demokratie“ hat bei dem von ihnen favorisiertem und komplizierterem Modell Mehrkosten von 5,9 Millionen Euro (bei, weil es keine Überhangmandate mehr gibt, gleichzeitigen Einsparungen von 4 bis 8 Millionen Euro) angenommen.

Die Gefahr, dass Wahlcomputer eingesetzt werden, ist nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 3. März 2009, gebannt.

Die Größe der Stimmzettel und die Komplexität des Wahlsystems scheinen den BürgerInnen keine Probleme zu bereiten. Denn sie nehmen diese erweiterten Wahlmöglichkeiten wahr und sie haben auch einen Einfluss auf die personelle Zusammensetzung des Parlaments.

Insofern besteht die Gefahr einer stärkeren Personalisierung im Wahlkampf, die auf Kosten der Programmatik gehen kann, wenn die KandidatInnen Positionen verfechten, die nicht im Einklang mit dem Wahlprogramm stehen.

Das Argument ist aus Sicht der LAG nicht besonders stichhaltig, weil auch wir Bündnisgrünen in den vergangenen Jahren für alle Wahlen verstärkt Kopfplakate gehängt haben und zunehmend auch einen Erststimmenwahlkampf betreiben. Außerdem sind bekannte Personen die beste Werbung für die Partei.



Erweiterungen und Reformen im bestehenden System

Diese Veränderungen des Wahlrechts durch einzelne Maßnahmen können die Umstellung auf ein Kumulier-/Panaschiersystem ergänzen und würden unsere bekannten Forderungen ergänzen.

Sie sind noch nicht explizit durch Parteibeschlüsse und Wahlprogramme gedeckt gedeckt:


- Absenken der Fünf-Prozent-Hürde auf drei Prozent (nur LA-Beschluss vorhanden)

Die bisherigen Erfahrungen in den BVVen nach dem Wegfall der Fünf-Prozent-Hürde sind gut; verschiedene Gerichte haben bereits für die kommunale Ebene den Wegfall der Fünf-Prozent-Hürde gefordert; es könnte zu einer Dynamisierung des politischen Systems beitragen und es würde die hohe Zahl der zuletzt verfallenen Stimmen (13,7 Prozent bei der letzten Abgeordnetenhauswahl) reduzieren.

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Die Alternativ- und die Nein-Stimme würden bei der Umstellung auf ein Kumulier-/Panaschiersystem möglicherweise obsolet werden. Bei dem derzeitigen Berliner Wahlrecht sind sie allerdings dringend notwendige Ergänzungen:


- Alternativ-Stimme/Ersatz-Stimme (nur LA-Beschluss vorhanden)

Wenn eine Partei an der Drei-Prozent-Hürde scheitert, kann die abgegebene Stimme auf eine andere Partei übertragen werden.

Derzeit wird die strukturell ähnliche Single Transferable Vote (STV, Übertragbare Einzelstimme) in Australien, Malta, der Republik Irland, Nordirland (außer bei Wahlen zum britischen Unterhaus), bei einigen Kommunalwahlen in Neuseeland und bei Kommunalwahlen in Schottland angewandt.

Die genauen Auswirkungen sind unklar, aber weil in Berlin bei der letzten Abgeordnetenhauswahl 13,7 Prozent der Stimmen verfielen, wäre die Alternativ-Stimme eine Möglichkeit, die Stimmen von WählerInnen zu retten. Sie würden nicht mehr verfallen und die WählerInnen könnten bei der Wahl ihre wahren Präferenzen ausdrücken.

Die Innenverwaltung hält die Alternativ-Stimme für rechtlich unzulässig, weil sie gegen den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl verstoße. Mehr Demokratie hat dagegen vor dem Landesverfassungsgericht geklagt. Bis jetzt wurde darüber noch nicht entschieden.


- Nein-Stimme

Wenn die Listen aller Parteien abgelehnt werden, aber durch die Stimmabgabe deutlich gemacht werden soll, dass dem System der parlamentarischen Demokratie positiv gegenübergestanden wird, kann mit „Nein zu allen Parteilisten/KandidatInnen“ abgestimmt werden.

Mit der Nein-Stimme könnten BürgerInnen ihre Zustimmung zur parlamentarischen Demokratie und gleichzeitig ihre Ablehnung gegenüber allen Parteilisten (und dem von den Parteien aufgestelltem Spitzenpersonal) ausdrücken. So würde die Größe des Protestes gegen die etablierten Parteien deutlich, ohne dass diese WählerInnen eine Protestwahl machen müssten.

 (Stand: Dezember 2009)