11.06.13 –
Beschluss der LAG Europa Berlin-Brandenburg vom 10. Juni 2013
Automatische Stabilisatoren reduzieren asymmetrische Konjunkturschwankungen
Wirtschaftliche Schocks können einzelne Teile der Eurozone unterschiedlich betreffen, so dass sich einzelne Mitgliedstaaten in der Rezession befinden, während andere im Boom sind. In der Währungsunion können die einzelnen Staaten darauf jedoch nicht mit einer eigenständigen Geldpolitik und nur sehr eingeschränkt mit ihrer Fiskalpolitik reagieren. Damit fehlen wichtige Möglichkeiten der Konjunkturstabilisierung. So ging die deutsche Wirtschaftskrise Anfang der 2000er Jahre mit der Bildung von Immobilienblasen in Südeuropa einher; umgekehrt führte die Eurokrise seit 2008 zu einer massiven Rezession in den südeuropäischen Staaten, während die nordeuropäischen Länder kaum betroffen sind. Innerhalb von Nationalstaaten werden solche asymmetrischen Konjunkturentwicklungen durch interregionale Stabilisatoren wie das Steuer- und Sozialsystem abgefedert, die automatische finanzielle Transfers von den Boom- in die Krisenregionen auslösen. Ein solcher interregionaler Stabilisator ist auch für die Eurozone notwendig.
Unter günstigen Bedingungen kann das Wirtschaftssystem regionale Schocks teilweise selbst abfangen, etwa durch Arbeitsmigration in die Boomregionen und durch die Streuung von Verlusten durch weit verteilten Aktienbesitz. In der Eurozone sind diese Mechanismen jedoch nur in sehr geringem Ausmaß wirksam: Arbeitsmigration wird durch sprachliche, kulturelle und rechtlich-bürokratische Hindernisse erschwert, so dass MigrantInnen häufig keine qualifikationsadäquate Arbeit finden können, und AnlegerInnen konzentrieren sich stark auf Unternehmen des eigenen Landes.
Kurzzeitarbeitslosigkeit europäisch aus Lohnnebenkosten versichern
Die vielversprechendste Möglichkeit eines europäischen Stabilisators ist die europäische Arbeitslosigkeitsmindestversicherung (ALMV), die sich aus Lohnnebenkosten finanziert und die derzeit bestehenden nationalen Systeme für kurzfristige Arbeitslosigkeit teilweise ersetzen sollte. Diese europäische Versicherung ist ein rein makroökonomisches Instrument. Sie schwächt die Wirkung asymmetrischer Schocks zwischen den Mitgliedstaaten ab, da sie zu automatischen Transfers von Staaten mit hohem Beschäftigungsgrad zu Staaten mit hoher kurzfristiger Arbeitslosigkeit führt. Dadurch wird die Nachfrage in den Krisenstaaten gestützt und überhitzenden Regionen Geld entzogen. Dem widerspricht auch nicht, dass die Arbeitslosigkeit in der Regel erst mit einer gewissen Verzögerung nach dem Beginn eines Abschwungs steigt: Zum einen dauert eine Rezession typischerweise so lange, dass die Transferzahlungen trotzdem noch vor dem Wendepunkt wirksam werden und damit die Stärke des Einbruchs begrenzen können. Zum anderen verhindert bereits die Erwartung einer Nachfragestabilisierung in der Krise selbstverstärkende Abwärtstendenzen.
Indem die ALMV die Konjunktur stabilisiert, reduziert sie auch Zwänge zu einer prozyklischen Politik. Da Krisenstaaten durch die Versicherung bei der Finanzierung der kurzfristigen Arbeitslosigkeitsleistungen unterstützt werden, sehen sie sich weniger der Notwendigkeit ausgesetzt, im Abschwung Sozialleistungen zu kürzen. Zugleich fallen nationale Überschüsse in Boomzeiten geringer aus, was den politischen Druck mindert, diese aus kurzfristigen Erwägungen für andere Zwecke zu verwenden und dem System der Arbeitslosigkeitsversicherung zu entziehen.
Für die Ausgestaltung der europäischen ALMV ist etwa ein Modell denkbar, bei dem jedeR sozialversicherungspflichtig Beschäftigte (bzw. sein/ihr Unternehmen) 2% seines/ihres Bruttogehalts statt in die nationale in die gemeinsame europäische Versicherung einzahlt. Ersatzweise können Mitgliedstaaten diese Einzahlungen auch aus Steuern finanzieren. Nachdem einE ArbeitnehmerIn mindestens 12 Monate eingezahlt hat, hat er/sie im Falle der Arbeitslosigkeit einen Anspruch auf 50% seines/ihres letzten Bruttogehalts für die Dauer von 12 Monaten. Das Erheben der Versicherungsbeiträge und die Auszahlung der Versicherungsleistungen erfolgt über die mitgliedstaatlichen Sozialbehörden, die hierfür bereits im Rahmen der bestehenden nationalen Versicherungssysteme zuständig sind. Die europäische ALMV schränkt nicht die Möglichkeit der Mitgliedstaaten ein, weiterhin auch nationale Versicherungssysteme zu unterhalten, die eine höhere und/oder längere Absicherung bieten.
Bei richtiger Ausgestaltung kaum Gefahr von Fehlanreizen
Die konjunkturelle Stabilisierung durch die ALMV erzeugt dabei kaum Fehlanreize. Da die ALMV auf vorab definierten Regeln aufbaut, wirkt sie automatisch und ist nicht von weiteren politischen Verhandlungen und Entscheidungen abhängig. Zugleich ist sie dadurch wenig gestaltungsanfällig und lässt sich kaum ausnutzen.
Potentiellen Schwierigkeiten kann durch die Ausgestaltung der ALMV begegnet werden. Eine erste solche Schwierigkeit stellt die Gefahr einer temporären Unterfinanzierung dar. Bei einem asymmetrischen Schock werden die erhöhten Ausgaben der ALMV in den Krisenländern durch erhöhte Einnahmen in den Boomstaaten kompensiert. Bei einer symmetrischen, d.h. gesamteuropäischen Wirtschaftskrise kann es jedoch vorübergehend dazu kommen, dass die Einzahlungen und Reserven die Ausgaben der ALMV nicht decken. Für diesen Fall sollte die ALMV Kredite aufnehmen können, die aus den zukünftigen Beitragszahlungen zurückgeführt werden müssen.
Um der Gefahr des Betrugs vorzubeugen, ist die europäische ALMV außerdem auf zuverlässige Statistiken angewiesen. Diese sollten daher durch den Austausch von best practices zwischen den Mitgliedstaaten und zusätzliche Kontrollrechte für Eurostat sichergestellt werden.
Die europäische Arbeitlosigkeitsmindestversicherung verhindert das Auseinanderdriften der Eurozone
Indem die europäische ALMV asymmetrische Schocks zwischen den Mitgliedstaaten reduziert, nützt sie unmittelbar den Bürgerinnen und Bürgern, da diese weniger stark von Wirtschaftskrisen betroffen sind. Zugleich verhindert sie eine Auseinanderentwicklung der Eurostaaten und trägt durch die Annäherung der Konjunkturverläufe dazu bei, dass sich das optimale Zinsniveau in allen Ländern angleicht und so die Geldpolitik der EZB wirksamer wird.
Die ALMV ist dabei auch anderen Konzepten einer interregionalen Konjunkturstabilisierung überlegen, die meist nur auf das Bruttoinlandsprodukt oder den Reichtum eines Mitgliedstaats fokussieren. Ein von der Padoa-Schioppa-Gruppe vorgeschlagenes, derzeit viel diskutiertes Instrument ist ein Konjunkturausgleichsfonds. Hierbei würden Mitgliedstaaten abhängig von der Abweichung ihrer Wirtschaftsleistung von ihrem langfristig zu erwartenden Potentialoutput Geld in den Fonds einzahlen oder daraus erhalten. Das zentrale Problem ist jedoch, dass sich das Potentialoutput als abstrakte Größe nicht zuverlässig berechnen lässt, wodurch der Effekt des Fonds neutralisiert oder sogar ins Gegenteil verkehrt werden kann. Im Gegensatz dazu ist die ALMV an einen konkreten sozialen Indikator, nämlich die Beschäftigung, geknüpft, so dass sie realen sozio-ökonomischen Entwicklungen folgt.Die zwischenstaatlichen Transfers in der ALMV sind über den Konjunkturzyklus hinweg in etwa ausgeglichen, so dass die Versicherung allen Mitgliedstaaten nützt, ohne dass es zu einer dauerhaften Umverteilung zwischen ihnen kommt. Auch Deutschland als wirtschaftsstärkstes Mitgliedsland wird also bei einer zukünftigen Krise sowohl von Unterstützungsleistungen der ALMV als auch von der besseren Reaktionsmöglichkeit der EZB profitieren. Zur Finanzierung der ALMV werden keine zusätzlichen Beiträge oder Steuern erhoben.
Nicht zuletzt bietet die europäische Arbeitslosigkeitsmindestversicherung auch einen Einstieg in das „soziale Europa“. Erstmals würde dadurch eine soziale Mindestabsicherung auf europäischer Ebene garantiert, hinter die die Mitgliedstaaten auch in Krisenstaaten nicht zurückfallen können. Zugleich wäre sie Ausdruck einer konkreten Solidarität zwischen den Bürgerinnen und Bürgern der EU und ein Beitrag zur Stärkung der europäischen Identität und der gemeinsamen Debatte.
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