09.07.20 –
Die Versammlungsfreiheit ist elementarer Bestandteil der Demokratie und Ausdruck
kollektiver Meinungsfreiheit. Deshalb muss sichergestellt sein, dass alle
Menschen das Gefühl haben, sich jederzeit friedlich versammeln zu können. Das
Gesetz sollte demnach das Ziel verfolgen, Demonstrationen und Gegen-
Demonstrationen zu ermöglichen und von dem Gedanken getragen sein, dass
Versammlungen grundsätzlich friedlich sind - im Zweifel sollte die Friedlichkeit
einer Versammlung vermutet werden.
Dagegen sollten Versammlungen nicht als potenzielle Störung der Sicherheit
begriffen werden. Einschränkungen durch Auflagen oder Verbote sollten möglichst
vermieden werden. Abschreckende Wirkungen durch Polizeikräfte, potenzielle
Repressionen und Strafverfolgung sowie Haftungsrisiken stehen der Ausübung der
Versammlungsfreiheit daher entgegen. Sie sollten in einem
Versammlungsfreiheitsgesetz auf die Fälle beschränkt sein, in denen sie zur
Abwehr konkreter, schwerwiegender Gefahren absolut notwendig sind.
Hierbei möchten wir auch darauf hinweisen, dass der Menschenrechtsausschuss der
Vereinten Nationen für dieses Jahr die Verabschiedung eines General Comment über
das Recht auf Versammlungsfreiheit in Artikel 21 des Internationalen Paktes für
Bürgerliche und Politische Rechte plant. Ein Entwurf des General Comment ist
bereits öffentlich
verfügbar (https://www.ohchr.org/EN/HRBodies/CCPR/Pages/GCArticle21.aspx). Der
General Comment wird als “soft law” einen wichtigen internationalen Standard zur
Versammlungsfreiheit darstellen, weswegen das Berliner
Versammlungsfreiheitsgesetz dem entsprechen sollte. So kann das Gesetz sowohl
national als auch international Vorbildcharakter annehmen.
Wir sprechen Euch, der Fraktion, unseren Dank für die intensiven Verhandlungen
aus und sehen anhand des jetzigen Entwurfs, dass sie Ihr Euer Möglichstes tut,
um ein Versammlungsfreiheitsgesetz im Sinne des Koalitionsvertrages auf den Weg
zu bringen. Gleichwohl ist es uns ein Anliegen, dass der Gesetzentwurf mit etwas
Abstand und anhand externer Stellungnahmen abermals beleuchtet wird.
Vor diesem Hintergrund fordern wir die Fraktion auf, den aktuellen Entwurf des
Versammlungsfreiheitsgesetzes unter Berücksichtigung der hier genannten Aspekte,
die uns besonders wichtig sind, zu prüfen.
Eine allgemeine Anzeigepflicht sollte nur für öffentliche Versammlungen
unter freiem Himmel festgeschrieben werden. Falls am Erfordernis einer
allgemeinen Anzeigepflicht festgehalten wird, darf sie nicht zum
Selbstzweck werden. Es muss klargestellt werden, dass das Versäumnis, eine
Versammlung anzuzeigen, kein Grund für die Auflösung oder die Erteilung
von Auflagen darstellt und insbesondere keine Gefahr für die öffentliche
Sicherheit ist.
Eingriffe in die Versammlungsfreiheit sind im Versammlungsrecht zu regeln.
Hinweise auf das Polizeirecht sind zu unterlassen. Die Kompetenzen der
Polizei sind im Versammlungsrecht speziell zu regeln.
Das Deeskalationsgebot sollte konkretisiert werden.
Es sollte ausdrücklich klargestellt werden, dass Maßnahmen gegen einzelne
Versammlungsteilnehmer*innen Maßnahmen gegen die gesamte Versammlung bzw.
einen größeren Teil der Versammlung (z.B. Polizeikessel) stets vorgehen.
Denkbar wäre hier konkret eine Ergänzung in §§ 14 (3), 22 (2).
Die Veranstalter*innen von Versammlungen sollten nicht zur Kooperation
verpflichtet werden. Die entsprechende verfassungsgerichtliche
Rechtsprechung sollte im Gesetz umgesetzt werden. Die Veranstalter*innen
müssen das Recht haben, Kooperationsgespräche aufzunehmen. Die Behörde ist
dann zu Kooperation verpflichtet.
Die Verpflichtung des Versammlungsleiters oder der Versammlungsleiterin
auf die Friedlichkeit der Versammlung hinzuwirken, sollte gestrichen
werden.
Darüber hinaus halten wir es für angebracht, die verfassungsrechtliche
Definition von Friedlichkeit in den Gesetzestext aufzunehmen.
Die Anwesenheit der Polizei sowie Abstandsregelungen sollten klar geregelt
sein. Die Anwesenheit der Polizei sollte dabei an Organisationsaufwand und
an konkrete Anhaltspunkte für Gefahren geknüpft werden. Gerade kleinere
Versammlungen bedürfen keiner massiven Polizeibegleitung.
Wenn die Anwesenheit erforderlich ist, muss sich die Polizei unverzüglich
zu erkennen geben, damit die Versammlungsleitung und die
Versammlungsteilnehmer*innen Bescheid wissen.
Der Einsatz und das Mitsichführen von Waffen durch Polizist*innen sollte
im Versammlungsgesetz nur auf Situationen beschränkt werden, in denen
konkrete Hinweise auf schwerwiegende Gefahren bestehen.
Das Mitsichführen von Schusswaffen auf äußerste Notfälle beschränkt
werden.
Bild- und Tonaufzeichnungen haben sich an den europäischen
Datenschutzstandards zu orientieren. Auch Versammlungsteilnehmer*innen
müssen Zugang zu den Bild- und Tonaufzeichnungen haben.
Ein Verstoß gegen das Vermummungsverbot und das Mitsichführen von
Schutzgegenständen darf keine Strafbarkeit begründen. Vorstellbar ist
allenfalls eine Ordnungswidrigkeit, die aber erst einschlägig ist, wenn
die Polizei ausdrücklich auf dieses Verbot hingewiesen hat und auf die
bevorstehende Durchsetzung, weil ansonsten eine friedliche Versammlung
nicht mehr gewährleistet werden kann.
Es ist positiv, dass der Gesetzentwurf ausdrücklich die Rechte von
Medienvertreter*innen schützt. Neben diesen sollten allerdings auch
parlamentarische Beobachter*innen sowie unabhängige Beobachter*innen, etwa
von NGOs, erwähnt werden.
Begründung:
zu 1) Es ist ausreichend, die Anzeigepflicht etwa auf Versammlungen ab einer
bestimmten Größe und solche, die Verkehrsbeeinträchtigungen mit sich bringen, zu
beschränken. Auch der Entwurf des General Comment des UN-
Menschenrechtsausschusses empfiehlt, Versammlungen von der Anzeigepflicht
auszunehmen, wenn ihre Wirkung auf andere vernünftigerweise als geringfügig
eingeordnet werden kann (Rn. 82).
zu 2) Die Versammlungsfreiheit hat in einer Demokratie eine herausragende
Bedeutung. Deshalb sollten Eingriffe durch ein spezielles und abschließendes
Gesetz geregelt werden. Dies dient auch der Rechtssicherheit für alle
Anwender*innen. So kann auch der Gefahr begegnet werden, dass die hohen
Eingriffsbefugnisse des Versammlungsrechts unterlaufen werden. Versammlungen
sind und bleiben „polizeifest“.
zu 3) Nur so gibt es eindeutige Verpflichtungen, die in jedem Fall Anwendung
finden. Viele Konflikte können durch Deeskalationsstrategien vermieden werden.
Das zeigen etwa die Erfahrungen mit Demonstrationen am 1. Mai. Die guten
Berliner Erfahrungen sind eine Leistung des R2G-Senats. Entsprechende
Verpflichtungen und klare Regelungen sind gelebte Realität und sollten deshalb
auch im Gesetz eindeutig verankert werden.
zu 4) Entsprechende Maßnahmen sind ein weniger grundrechtsbeschränkendes Mittel
und können das Eingriffsziel trotzdem erreichen.
zu 5) Eine Kooperation der Versammlungsorganisator*innen und der Polizei
ermöglicht Gefahrvermeidung und damit weitreichende Versammlungsfreiheit.
Kooperation sollte und kann aufgrund der Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts aber nicht erzwungen werden. Sie kann nur seitens der
Behörde angeboten werden.
zu 6) Versammlungsleiter*innen sind keine „Hilfspolizist*innen“. Die
Verpflichtung zur Friedlichkeit besteht für die Teilnehmenden. Die Leitung kann
dies in vielen Fällen gar nicht durchsetzen, etwa wenn einzelne beschließen, die
Versammlung für unfriedliche Zwecke zu instrumentalisieren. Die
Versammlungsleitung hat keine Exekutivmacht, sodass eine unmöglich einzuhaltende
Pflicht aufgebürdet würde. So werden viele Menschen von der Organisation von
Versammlungen abgehalten, da sie eine Inanspruchnahme durch die Polizei
befürchten müssen. Darüberhinaus impliziert die Regelung eine Vermutung für die
Unfriedlichkeit von Versammlungen. Dafür gibt es in Berlin und bundesweit keine
empirischen Anhaltspunkte.
zu 7) Hierfür sprechen schon Gründe der Transparenz und
Anwender*innenfreundlichkeit des Gesetzes. Entsprechend dem Vorgehen bei anderen
verfassungsgerichtlichen Judikaten (Versammlungsbegriff, Spontanversammlung
etc.) sollte an diesere Stelle ebenso verfahren werden.
zu 8) Anwesende Polizei kann eine abschreckende Wirkung auf demonstrierende
Menschen haben. Hierdurch entsteht der Eindruck, dass die Versammlung gefährlich
sei und dass mit einem Einschreiten der Polizei zu rechnen ist. Gerade
unerfahrene Menschen können dadurch Angst bekommen und sich von Versammlungen
fernhalten, auch, wenn sie gerne demonstrieren wollen. Bei vielen
Demonstrationen in Berlin hält sich die Polizei zudem bewusst zurück, auch um
eine Eskalation zu verhindern. Diese Praxis kann sich daher unproblematisch auch
im Gesetz widerspiegeln. Dies muss gerade auch vor dem Hintergrund gelten, dass
in Berlin viele Versammlungen stattfinden, sodass die Polizei durch eine breite
Anwesenheit an Versammlungen personell belastet wird.
zu 9) Unsicherheit, ob sich Polizist*innen in der Versammlung befinden, kann
dazu führen, dass Menschen sich bei der Ausübung ihrer Versammlungsfreiheit
eingeschränkt sehen. § 11 S. 2 HS. 2 des Entwurfs ist in diesem Zusammenhang
zumindest missverständlich formuliert. Die Vorschrift könnte so verstanden
werden, dass sie den Einsatz von nicht erkennbaren Polizist*innen in “Zivil” bei
Versammlungen unter freiem Himmel autorisiert. Eine solche Befugnis muss jedoch
zumindest an eine Gefahrenschwelle geknüpft werden.
zu 10) Die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts zum Tornado-Einsatz
beschreibt sehr anschaulich, welche abschreckenden Wirkungen durch Waffen
entstehen können und diese Rechtsprechung ist auch auf bewaffnete Polizist*innen
übertragbar. Sind Waffen nicht erforderlich, sollte auch für Polizist*innen, die
direkt in und neben der Versammlung sind, ein Verbot von Waffen bestehen. Diese
vermitteln einen martialischen Eindruck, der überwiegend friedlichen
Versammlungen in Berlin nicht gerecht wird.
zu 11) Ein Schusswaffeneinsatz in einer Versammlung ist mit so hohen Risiken für
Unbeteiligte verbunden, dass dieser ohnehin praktisch kaum vorstellbar ist. Auch
in Berlin konnte man immer wieder Polizist*innen mit Schnellfeuerwaffen auf
Versammlungen beobachten. Aufgrund des hohen Risikos sind diese im Kontext von
Versammlungen generell zu verbieten.
zu 12) Der Einsatz der Bild- und Tonaufnahmen kann eine hohe
Abschreckungswirkung auf potenzielle Versammlungsteilnehmer*innen haben und ist
daher restriktiv auszugestalten, insbesondere die Anforderungen an
Übersichtsaufnahmen sind noch viel zu unbestimmt.
zu 13) Gerade die Erfahrungen mit Demonstrationen im Zusammenhang mit dem G7-
Gipfel haben gezeigt, dass es nicht sinnvoll ist, die Polizei dazu zu zwingen,
entsprechende Straftaten zu verfolgen. Zur Deeskalation kann es geboten sein,
entsprechendes Verhalten in einigen Situationen zu tolerieren, andernfalls
droht, wie in Hamburg zu beobachten war, eine Deeskalation mit massiven
Ausschreitungen. Gerade, wenn nur wenige Menschen in einer überwiegend
friedlichen Versammlung gegen entsprechende Vorschriften verstoßen, muss eine
Eskalation, die die gesamte Versammlung betrifft, vermieden werden. Wir trauen
der Polizei zu, dass sie im Einzelfall beurteilen kann, ob eine Durchsetzung des
Vermummungsverbotes und anderer Vorschriften notwendig ist oder ob sie ihren
Spielraum zur Deeskalation nutzt. Gegenstände, die Menschen zum Schutz mit sich
führen, dürfen nicht kriminalisiert werden. Es muss sichergestellt werden, dass
eine Vermummung, die nicht der Verschleierung der Identität gilt zur Vermeidung
von Strafverfolgung dient, nicht bußgeldbewehrt ist. Gerade in Zeiten von Corona
ist deutlich geworden, dass es viele Gründe geben kann, auf einer Versammlung
das Gesicht zu bedecken. Insbesondere, da Schutzmasken noch lange Zeit
angebracht sein können, muss durch das Gesetz sichergestellt werden, dass solche
auf Demonstrationen getragen werden dürfen. Auch ist nicht jede Mütze oder
Sonnenbrille oder ein Schal der Versuch einer Vermummung. In dieser Hinsicht ist
das Gesetz noch zu unklar. Es kann nicht alleine Sache der Polizei sein, zu
bestimmen, was bei einer Demonstration verboten ist und was nicht. Diese
Möglichkeit eröffnet aber der vorliegende Entwurf in § 19 Abs. 2. Durch die Norm
können vorab verbotene Gegenstände per Anordnung bestimmt werden. Diese Regelung
ist viel zu weit, da die Verwendung der allermeisten Gegenstände ja
grundsätzlich auch erlaubten Zwecken dienen kann. Auch der Entwurf zum General
Comment des UN-Menschenrechtsausschusses stellt fest, dass das Verdecken des
Gesichts auf Versammlungen viele legitime Zwecke haben kann (Rn. 70). Er
fordert, dass Versammlungsteilnehmer*innen nicht verboten werden soll, ihr
Gesicht zu verdecken, wenn es keine Hinweise auf unmittelbar bevorstehende
Gewalt oder hinreichenden Gründe für Festnahmen gibt. Pauschale
Vermummungsverbote können nach Ansicht des Menschenrechtsausschusses nur in
Ausnahmefällen gerechtfertigt werden.
zu 14) Diese üben eine wichtige Funktion zum Schutz der Versammlungsfreiheit und
anderer Rechte der Versammlungsteilnehmer*innen aus, sind aber selbst nicht Teil
der Versammlung und dürften von der Polizei auch nicht als solche behandelt
werden.
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