Chancenstadt Berlin: Qualifizierte und flexible Beschulung für alle neu zugewanderten Kinder und Jugendlichen sicherstellen

03.06.23 –

Beschluss auf der Landesdelegiertenkonferenz:

Bildung ist die wichtigste Ressource für die Zukunftsfähigkeit einer Gesellschaft und Voraussetzung für umfassende Teilhabe und sozialen Aufstieg. Dennoch warten in Berlin trotz bestehender Schulpflicht mehr als 1500 geflüchtete und neu zugewanderte Kinder und Jugendliche auf einen Schulplatz – und das häufig bereits seit Monaten. Obwohl es gelungen ist im letzten Jahr mehr als 7.000 Schulplätze zu schaffen und über 500 Lehrkräfte einzustellen, konnte nicht allen Kindern und Jugendlichen ein Bildungsangebot unterbreitet werden. Diese Situation zeigt, dass Berlin für das Recht auf Bildung für geflüchtete und neu zugewanderte Kinder und Jugendliche umfassender und flexibler gute Angebote schaffen muss. Neben der zügigen Bereitstellung weiterer Kapazitäten in Willkommensklassen benötigt es Sofortmaßnahmen für bislang unbeschulte Kinder und Jugendliche.

Seit Jahren fehlt Berlin ein klares und verbindliches Konzept, das die Rahmenbedingungen einer inklusiven Beschulung neu zugewanderter und geflüchteter Kinder und Jugendlicher regelt, Lehrkräfte entlastet und Schülerinnen und Schüler gezielt unterstützt. Es braucht ein solide geplantes Bildungsangebot mit Lehr- und Förderplänen, welches rechtlich verankert und ausfinanziert ist. Es braucht umfassende Maßnahmen, die die schnelle Partizipation geflüchteter und neu zugewanderter Kinder und Jugendlicher in die reguläre schulische Bildung ermöglichen und somit den Bildungserfolg und damit die Chancen auf umfassende gesellschaftliche Teilhabe nachhaltig erhöhen

Wir fordern Sofortmaßnahmen angesichts der hohen Zahl unbeschulter Kinder und Jugendlicher:

  • Zügige Einstellungsverfahren für Lehrkräfte in Willkommensklassen mit angemessener Bezahlung bei gleichwertiger Berücksichtigung akademischer Abschlüsse
  • Einführungscoaching für Willkommenslehrkräfte nach dem Vorbild der Quereinsteiger:innen
  • Ausreichend Plätze im Fortbildungsprogramm für Willkommenslehrkräfte sowie Zugang für befristet eingestellte Lehrkräfte
  • Schnelle und gezielte Beteiligung von in Berlin lebenden Lehrkräften mit ausländischem Abschluss
  • Frühere Einbindung von Lehramtsstudierenden in die Unterrichtspraxis
  • Effektive Nutzung der Schulgebäude an Nachmittagen, am Wochenende und in Ferienzeiten
  • Ausreichende Ausstattung aller Willkommensklassen mit Unterrichtsmaterialien, digitalen Endgeräten und Technik für zeitgemäßen Unterricht
  • Durchmischung der Willkommensklassen ohne Separierung einzelner Sprachgruppen
  • Bessere sozialarbeiterische Begleitung der Willkommensklassen
  • Einrichtung einer Koordinierungsstelle für geflüchtete und neu zugewanderte Kinder und Jugendliche mit Behinderung

Wir fordern eine Reform des Systems der Willkommensklassen:

  • Beteiligung am Regelbetrieb von Anfang an: Neu zugewanderten Kindern und Jugendlichen
  •  Teilhabe an schulischen Unterrichts- und Freizeitaktivitäten ermöglichen
  • Verpflichtende und einheitliche Sprach- und Lernstandserhebung mit darauf aufbauenden individuellen Lern- und Förderplänen
  • Fachliches Lernen auch in der Herkunftssprache für Kontinuität in der Bildungsbiografie und die Schließung von Lernlücken
  • Mehrstufiger Übergang: Berlin braucht ein verbindliches mehrstufiges Übergangskonzept mit dem Ziel einer schrittweisen, zügigen Teilhabe am Regelunterricht
  • Begleitende Sprachförderung auch nach dem Übergang ins Regelsystem
  • Anerkennung von Deutsch als Zweitsprache (DaZ) als ordentliches Schulfach
  • Begleitende wissenschaftliche Evaluation des neu eingeführten Beschulungssystems für neu zugewanderte Kinder und Jugendliche für eine Qualitätssicherung und Optimierung

Bedingungen für Lehrkräfte in Willkommensklassen verbessern

Um zügig mehr Lehrkräfte für Willkommensklassen zu gewinnen braucht es schnelle Einstellungsverfahren, eine attraktive Vergütung sowie eine gleichwertige Berücksichtigung verschiedener akademischer Abschlüsse. Ein besonderes Augenmerk soll hierbei auf der pädagogischen Qualifikation der Neueingestellten liegen. Des weiteren dürfen die Willkommensklassen nicht als "Schulklassen zweiter Klasse" betrachtet werden, in denen vorwiegend Quereinsteiger:innen unterrichten, während die vollausgebildeten Lehrkräfte den Regelklassen vorbehalten bleiben. Da Willkommenslehrkräfte häufig Quereinsteiger:innen sind, sollte das in diesem Kontext erfolgreiche Modell eines Einführungscoachings durch erfahrene Lehrkräfte auf Willkommenslehrkräfte ausgeweitet werden. Zudem muss es eine ausreichende Zahl an Plätzen im begleitenden Fortbildungsprogramm für Willkommenslehrkräfte geben. So können die Lehrkräfte besser auf ihre verantwortungsvolle Tätigkeit vorbereitet werden. Das 2017 gestartete Qualifizierungsprogramm für zu uns geflüchtete Lehrkräfte muss reaktiviert werden, um die Zugangswege für Lehrkräfte aus dem Ausland in die Berliner Schulen zu verbessern. Zudem könnte der Praxisanteil im Lehramtsstudium erhöht werden, um Studierende besser auf die Berufspraxis vorzubereiten und gleichzeitig zusätzliche Unterstützung für eine Unterrichtsbegleitung zu gewinnen. Während geflüchtete und neu zugewanderte Kinder und Jugendliche auf einen Platz in einer Willkommensklasse warten, braucht es eine ausreichende Zahl pädagogisch angeleiteter Überbrückungsangebote. Hierzu hat sich in der Vergangenheit das Programm „Fit für die Schule“ bewährt, welches u.a. aus ersten Deutschmodulen sowie Selbststärkungsangeboten besteht. Kein schulpflichtiges Kind darf in Berlin ohne Bildungsangebot sein.

Ausstattung der Willkommensklassen verbessern

Zurzeit fehlt nicht nur ausreichend Personal für Willkommensklassen, auch Räumlichkeiten für den Unterricht sind rar. Daher sollten berlinweit flexible Konzepte erprobt werden, um Schulgebäude sowie weitere Räumlichkeiten auch in den Randzeiten an Nachmittagen, Wochenenden und den Ferien für den Unterricht zu nutzen. So vermeiden wir, dass Unterricht an fehlenden Räumlichkeiten scheitert. Neue Räumlichkeiten für Willkommensklassen müssen zudem technisch ausreichend ausgestattet sein, um einen zeitgemäßen Unterricht zu ermöglichen. Dazu zählt neben einer Bereitstellung von digitalen Endgeräten auch die Bereitstellung von attraktiven Lernmaterialien.

Sprachliche Durchmischung fördern, individuelle Begleitung sicherstellen

Willkommensklassen sollten sprachlich gut durchmischt sein, damit Deutsch als verbindende Sprache unter den Kindern und Jugendlichen Anwendung findet und erprobt werden kann. Da insbesondere geflüchtete Kinder und Jugendliche potentiell Gewalt vor, während und nach der Flucht ausgesetzt waren und sind, ist eine Unterstützung der Willkommensklassen durch pädagogische Fachkräfte unerlässlich, die entsprechende Kenntnisse aufweisen. Eine weitere Herausforderung für geflüchtete Kinder und Jugendliche stellt der Zugang zu einem passenden Förderangebot im Falle einer Behinderung dar. Hier fehlt es an einer berlinweiten Koordinierungsstelle, die Willkommenslehrkräfte, Eltern und Unterkünfte dabei unterstützt, den Weg in ein passendes Förderangebot zu ebnen.

Verpflichtende Lernstandserhebung und individuelle Förderpläne

Ausgangspunkt des Besuchs einer Willkommensklasse sollte eine verpflichtende und berlinweit einheitliche Lernstandserhebung sein, auf deren Grundlage verbindlich individuelle Lehr- und Förderpläne entwickelt werden. So kann beispielsweise festgestellt werden, welche Kinder und Jugendlichen über ausreichende Kenntnisse verfügen, um zügig am Regelunterricht in Englisch oder Mathematik teilzunehmen sowie wer in bestimmten Fächern fluchtbedingte Lernlücken aufweist und individuelle Förderangebote benötigt. Hierzu kann beispielsweise das bereits bestehende, kostenfreie Diagnosetool „2P - Potenziale und Perspektiven“ flächendeckend Verwendung finden, das Lernstände in Deutsch als Zweitsprache, Englisch und Mathematik erhebt.

Partizipation am Regelbetrieb von Anfang an mit mehrstufigem Übergang

Von Beginn an sollten Kinder und Jugendliche in Willkommensklassen einer Regelklasse zugeordnet sein, an deren sozialen Aktivitäten wie z. B. Wandertagen, AGs und Ganztagsangeboten sie teilnehmen und wo ein Platz garantiert ist. Auf diesem Weg sollte ein schrittweiser Übergang in den Regelunterricht erfolgen, der nach einer Basisqualifizierung in alltagssprachlichem Deutsch in der Willkommensklasse mit Fächern wie Sport, Kunst und Musik in der Regeklasse beginnt und schrittweise auf alle Fächer ausgeweitet wird. Begleitet wird dies durch Angebote zum schrittweisen Deutscherwerb in der Willkommensklasse und dem Erwerb von Deutsch-Zertifikaten nach dem Europäischen Referenzrahmen. Schon während des Besuchs einer Willkommensklasse sollten Teambesprechungen zwischen den Willkommens- Lehrkräften und den Lehrkräften des Regelbereichs zum Austausch über die Entwicklung der Schülerinnen und Schüler fest verankert sein. Ab der Sprachstufe A2 folgt ein verbindlicher Übergang in die Regeklasse, begleitet von ergänzendem DaZ-Unterricht. Jüngere Kinder nehmen von Beginn an am Regelunterricht teil, für ältere Kinder sowie für Jugendliche mit großen Lernlücken braucht es passgenaue Unterstützungsangebote zur Erreichung der Bildungsabschlüsse.

Fachliches Lernen auch in der Herkunftssprache

Von Beginn an müssen auch die Kenntnisse in Mathematik und Englisch so gefördert werden, dass die Schüler:innen einer Willkommensklasse beim schrittweisen Übergang in die Regelklasse auf das Niveau der jeweiligen Klassenstufe vorbereitet sind. Hierzu zählen auch zielgruppenbezogene Angebote in der Herkunftssprache, wie Mathematik-Unterricht auf Arabisch oder Farsi, um mit Gleichaltrigen trotz fluchtbedingter Lernlücken aufschließen zu können. Ebenso soll den Schülerinnen und Schülern Erstsprachlicher Unterricht in ausreichender Stundenzahl angeboten werden, wie dies in § 15 Schulgesetz Berlin vorgesehen ist.

Sprachförderung auch nach dem Übergang ins Regelsystem

Für die Zeit nach dem vollständigen Übergang ins Regelsystem muss es einen verbindlichen Anspruch auf eine Sprachförderung mit einer festgelegten Mindestanzahl von Stunden geben. Um diesen Anspruch zu realisieren, müssen die dazu benötigten Sprachförderstunden den Schulen pro Schüler:in zugewiesen und ihre Erteilung garantiert werden. Dafür muss Deutsch als Zweitsprache als ordentliches Unterrichtsfach anerkannt werden. Das Curriculum sollte sich am europäischen Referenzrahmen orientieren und neben der Entwicklung alltagssprachlicher Kompetenzen auch die Hinführung zur Bildungssprache sowie die Vermittlung von Lernstrategien beinhalten. Durch eine Weiterführung der Förderung neben dem Unterricht der Regelklasse sollte Schüler:innen, je nach angestrebtem Schulabschluss, das Erreichen des Niveaus C1 ermöglicht werden. DaZ-Lehrkräfte sollten ebenso wie andere Lehrkräfte ein Referendariat absolvieren, sodass ein einheitlicher Qualitätsstandard gesichert ist und Beschäftigungsbedingungen und Bezahlung sich nicht länger von anderen Lehrkräften unterscheiden. Dabei sollten auch Erfahrungsjahre angemessen berücksichtigt werden, damit auch erfahrenen DaZ-Lehrkräfte keine Nachteile entstehen. Notwendig ist eine Verankerung des Faches als Schulfach in den Stundentafeln der Schulstufenverordnungen und als Prüfungsfach für das Lehramt in der Lehramtszugangsverordnung.

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