Hilfe statt Stigmatisierung: Überschuldete unterstützen, Schuldnerberatung stärken

07.12.19 –

Beschluss der Landesdelegiertenkonferenz am 7. Dezember 2019

Unser Leben ist bestimmt von der Konsumgesellschaft. Wir befriedigen unsere Bedürfnisse über den Konsum von Produkten und Erlebnissen, um teilzuhaben und Teil zu sein. Aber nicht alle Berliner*innen haben hierfür die erforderlichen finanziellen Mittel. Weil sie nicht über das entsprechende Einkommen verfügen, aber dennoch teilhaben wollen und sich dafür verschulden. Die Prävention gegen Überschuldung beginnt in der Schule, Jugendeinrichtung und Elternhaus. Das Erlernen des Umgangs mit eigenem Geld, ist in Zeiten von Handyverträgen, Kreditkarten und Onlineshopping wichtiger denn je. Dies gelingt jedoch zu wenig, wie die Entwicklung der letzten Jahre nahelegt.

371.000 Berliner*innen sind überschuldet und können aus ihren laufenden Einkünften Zahlungsverpflichtungen, selbst bei Einschränkung ihrer Lebenshaltung, nicht mehr vollständig nachkommen. Sei es, weil sie ihren Job verloren haben, sich im Hartz IV Bezug befinden, nur von einer kleinen Rente leben oder finanziellen Belastungen durch Trennung bzw. Scheidung ausgesetzt sind. Es sind insbesondere armutsgefährdete Personengruppen, wie Alleinerziehende, Alleinstehende und von Altersarmut Betroffene, die in Berlin besonders häufig überschuldet sind. Sie sind hierdurch permanentem Stress ausgesetzt, leben in Angst vor den Gläubigern, bedienen bestehende Schulden durch neue Schulden und öffnen ihre Briefe nicht mehr.

Wer überschuldet ist, fühlt sich ausgeliefert und hilflos und wird hierdurch oftmals krank. Auch schämen sich viele Betroffene durch die gesellschaftliche Stigmatisierung von Überschuldung und Armut und suchen deshalb die Schuldnerberatungen in den Bezirken gar nicht oder erst sehr spät auf. Statt Stigmatisierung brauchen Überschuldete jedoch passgenaue und niedrig schwellige Unterstützung durch die Schuldnerberatungen, welche bei der Entwicklung eines Entschuldungsplans an ihrer individuellen Lebenssituation ansetzen und sie bei der Entschuldung unterstützen. Wir wollen hierzu die Schuldnerberatungen stärker mit den Angeboten der Sozialberatung, Suchtberatung und der psychosozialen Beratung in den Bezirken vernetzen, um Betroffene ganzheitlicher als bisher unterstützen zu können statt jeden Hilfebedarf isoliert zu betrachten. Denn regelmäßig ist die Unterstützung bei der Entschuldung Betroffener nicht sofort möglich, sondern erfordert zusätzliche Hilfen.

Derzeit werden nur knapp 1/3 aller überschuldeten Berliner*innen durch die Schuldnerberatungen in den Bezirken erreicht. Unser Ziel ist es, möglichst viele Überschuldete in den Bezirken bei der Entschuldung zu unterstützen. Bereits mit dem laufenden Doppelhaushalt haben wir Grüne die finanziellen Mittel für den Ausbau der Schuldnerberatungen in den Bezirken erhöht. Hierdurch konnte in den Schuldnerberatungen zusätzliches Personal eingestellt werden. Dennoch sind die Schuldnerberatungen überlaufen und es kommt weiterhin zu Wartezeiten für Überschuldete, ehe sie betreut werden. Wir wollen daher die Schuldnerberatungen in ihrer Arbeit weiter unterstützen und auch ein proaktives Zugehen der Schuldnerberatungen auf Überschuldete durch niedrig schwellige Angebote ermöglichen. Denn viele Überschuldete haben zu wenig Kenntnis über die Existenz der Schuldnerberatungen und geraten hierdurch in die Fänge zwielichtiger und kostenpflichtiger Entschuldungsbüros. Auch muss gewährleistet werden, dass Wartezeiten bei den bezirklichen Schuldnerberatungen reduziert und Wartelisten abgebaut werden. JedeR überschuldete Berliner*in soll zeitnah einen Termin bei den Schuldnerberatungen erhalten und nicht mehr wochenlang warten müssen. Deshalb wollen wir in jenen Bezirken, wie Mitte, Spandau, Marzahn- Hellersdorf, Friedrichshain-Kreuzberg und Neukölln, in denen die Überschuldung der Bewohner*innen laut dem Berliner Verschuldungsatlas besonders ausgeprägt ist, die Angebote der Schuldnerberatungen besonders ausbauen.

Die Stärkung der Schuldnerberatungen in den Bezirken erfordert neben dem Ausbau bestehender Beratungsformen eine stärkere interkulturelle Öffnung der Einrichtungen im Hinblick auf ihre Zielgruppen und neue Beratungsangebote. Ein Ausbau der Online-Beratung bietet das Potenzial, durch ihre Niedrigschwelligkeit und Anonymität Überschuldete zu erreichen, welche bisher aus Scham die Schuldnerberatungen nicht aufsuchen, jedoch Hilfe bei der Entschuldung in Anspruch nehmen möchten.

Es ist insbesondere der Mietenwahnsinn, der viele Berliner*innen in die Schuldenfalle treibt. 25% aller Personen, die die Schuldnerberatungen in den Bezirken im vergangenen Jahr aufgesucht haben, hatten Miet- oder Energieschulden. Diese haben oftmals besonders dramatische Folgen für die Betroffenen, da hier der Verlust der eigenen vier Wände und damit einhergehend Wohnungslosigkeit droht. Betroffene mit Mietschulden suchen jedoch nicht immer nach dem Besuch der Schuldnerberatungen auch die sozialen Wohnhilfen in den Bezirken auf. Um Überschuldeten mit Miet- oder Energieschulden zu helfen und Zwangsräumungen abzuwenden, ist in Fällen von Miet- und Energieschulden eine intensive Zusammenarbeit zwischen den Sozialämtern und den Schuldnerberatungen notwendig, um mit den sozialen Wohnhilfen in den Bezirken den Wohnraum der Überschuldeten durch die frühzeitige Zahlung der Mietschulden erhalten zu können.

Besonders problematisch sind ebenso die von Gläubiger*innen beauftragten Inkasso-Unternehmen, welche bereits überschuldete Berliner*innen durch horrende Zinsen und Gebühren für Mahnschreiben, deren Höhe bis zu 21% über dem Streitwert liegen, noch weiter in die Überschuldung treiben. Gleiches gilt für die zeitgleiche Beauftragung von Rechtsanwälten und Inkasso-Unternehmen gegenüber Überschuldeten. Auch treten Inkasso-Unternehmen in ihren Schreiben gegenüber überschuldeten Berliner*innen oftmals sehr aggressiv auf. Wir begrüßen daher als ersten Schritt den vom Bundesjustizministerium vorgelegten Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung des Verbraucherschutzes im Inkassorecht, welcher eine zeitgleiche Beauftragung von Inkasso-Unternehmen und Rechtsanwälten durch Gläubiger*innen zukünftig verbieten und ebenso die durch Inkasso-Unternehmen festzusetzenden Gebührenhöhen stärker reglementieren wird. Es braucht jedoch auch ein Verbot aggressiver Schreiben und Drohungen der Inkasso-Unternehmen gegenüber Überschuldeten. Denn Einschüchterungen dürfen sich nicht lohnen.

In einer auf Konsum ausgerichteten Welt muss der bewusste Umgang mit Geld frühzeitig vermittelt werden, um die Berliner*innen für die Ursachen und Folgen von Überschuldungen zu sensibilisieren. Da Jugendliche aus finanziell privilegierten Elternhäusern nachweislich über eine höhere Finanzkompetenz verfügen als finanziell nicht privilegierte Jugendliche, wollen wir die finanzielle Bildung Letzterer durch Angebote in Schulen und
Jugendfreizeiteinrichtungen im Sinne einer „präventiven Schuldnerberatung“ unterstützen. Auch die von Überschuldung am stärksten betroffenen Personengruppen, wie Alleinerziehende und die steigende Anzahl überschuldeter Senior*innen, benötigen zielgruppenspezifische Präventionsangebote in Nachbarschaftseinrichtungen in ihren Kiezen.