LAG-Beschluss vom 05.04.2020: Corona und Freiheitsrechte

05.04.20 –

Die Corona-Pandemie ist eine große Gefahr für die öffentliche Gesundheit. Ihre Eindämmung hat in den letzten Wochen tiefgreifende Grundrechtseingriffe verlangt, die wir uns noch vor wenigen Wochen nicht hätten vorstellen können und die die Grundpfeiler unserer freiheitlichen Demokratie berühren. Dabei und bei der Diskussion weiterer Maßnahmen sind aus unserer Sicht die folgenden Grundsätze von zentraler Bedeutung: 

    •  Grundrechtseingriffe müssen immer verhältnismäßig sein
Auch tiefgreifende Grundrechtseingriffe können in dieser Ausnahmesituation geboten sein. Trotzdem gilt: Wir müssen immer darlegen, inwiefern die gewählte Maßnahme den Schutz der öffentlichen Gesundheit im Vergleich zu alternativen, weniger eingreifenden Maßnahmen besser fördert. Die Effektivität der Maßnahme sollte, soweit angesichts der dynamischen Entwicklung möglich, wissenschaftlich dargelegt und ständig überprüft werden. Es darf keinen Wettbewerb um die härtesten Eingriffe geben. Wir müssen begründen, warum schwerwiegende Eingriffe erforderlich sind und warum der Gesundheitsschutz den Schutz anderer Grundrechte in bestimmten Situationen überwiegen kann.

    • Alle Maßnahmen müssen befristet sein, eine Verlängerung sollte besonders begründet werden
Verhältnismäßigkeit bedeutet ganz konkret auch eine möglichst knappe Befristung der Maßnahmen. Gerade in einer Situation, die sich höchst dynamisch entwickelt, kann sich eine Maßnahme, die an einem Tag noch notwendig ist, am nächsten Tag als nutzlos herausstellen. Daher sollte jede Regelung mindestens alle zwei Wochen auf ihre Effektivität überprüft werden. Da der Grundrechtseingriff sich mit der Geltungsdauer der Anordnung vertieft, steigen die Anforderungen an seine Rechtfertigung. Eine pauschale Verlängerung unter Verweis auf die ursprüngliche Begründung ist nicht möglich.

    • Parlamente sind die zentrale Entscheidungsinstanz
Nur die gewählten Parlamente können schwerwiegende Grundrechtseingriffe legitimieren. Gesetze, die die Verwaltung zum Erlass von Regelungen ermächtigen, müssen Inhalt, Zweck und Ausmaß der Ermächtigung möglichst genau bestimmen. Blankettermächtigungen sind zu vermeiden, Spielräume für die Verwaltung sollten begrenzt bleiben. Je stärker eine Maßnahme in Grundrechte eingreift, umso genauer sollte sie durch den Gesetzgeber angeordnet sein. Alles andere bedeutet eine Verschiebung im Gewaltenteilungsgefüge, die wir nicht hinnehmen möchten. Daher fordern wir, dass die Parlamente sich mit den bereits ergriffenen, tiefgreifenden Schutzmaßnahmen befassen, um diese politisch breiter zu legitimieren oder ihre Anpassung zu fordern.

    • Wir sollten keinen Präzedenzfall der Grundrechtseinschränkung schaffen
Wir befinden uns in einer Ausnahmesituation und wollen keinen Präzedenzfall für Grundrechtseingriffe in anderen Szenarien schaffen. Alle gesetzgeberischen Maßnahmen sollten darauf überprüft werden, ob sie schwerwiegende Eingriffe auch in weniger gravierenden und nicht vergleichbaren Szenarien ermöglichen. Um das zu vermeiden, sollten sie genau wie Maßnahmen der Verwaltung befristet sein. Kommunikativ und bei der Ausgestaltung von Regelungen müssen wir immer deutlich machen: Die momentanen Eingriffe sind nur im absoluten Ausnahmefall denkbar und bewegen sich an der Grenze dessen, was in einer freiheitlichen Demokratie möglich ist.

    • Vulnerable Gruppen dürfen nicht vergessen werden
Schutzmaßnahmen, die die Breite der Bevölkerung zwar einschränken, im Lichte des Gesundheitsschutzes aber angemessen sind, können einzelne betroffene Gruppen besonders belasten oder schlicht unerträglich für sie sein sein. So können Ausgangsbeschränkungen und weitgehende Kontaktverbote für Opfer häuslicher Gewalt zur Falle werden. Es ist rechtlich geboten, bei allen ergriffenen Schutzmaßnahmen die besonderen Risiken für vulnerable Gruppen mitzudenken. Zu ihrem Schutz müssen Ausnahmeregelungen oder ergänzende Schutzmaßnahmen gefunden werden. Es geht uns unter anderem um Menschen mit psychischen Vorerkrankungen, Menschen mit Behinderungen, Menschen, die häuslicher Gewalt ausgesetzt sind, Menschen, die Schutz und Asyl suchen, Gefangene und Obdachlose.

    • Die Justiz muss funktionsfähig bleiben
Effektiver Rechtsschutz muss jederzeit gewährleistet sein. Das gilt gerade, wenn Freiheitsrechte stark eingeschränkt werden. Alle Betroffenen müssen die Möglichkeit haben, Gesetze und Maßnahmen der Verwaltung in einem angemessenen Zeitraum gerichtlich überprüfen zu lassen. Es ist somit auch in der Krise für eine ausreichende Besetzung der Gerichte zu sorgen.