30.07.20 –
Wir wollen eine funktionsfähige Justiz, die zur Durchsetzung der Rechte aller beiträgt, die liberale Demokratie stabilisiert und Gerechtigkeit schafft. Das setzt eine Jurist*innenausbildung voraus, die dazu führt, dass Jurist*innen die gesellschaftlichen Machtverhältnisse und ihre eigene Rolle in diesen bewusst wahrnehmen. Jurist*innen sollen Empathie gegenüber Rechtssuchenden aufbringen, die ihnen in vielen Konstellationen ausgeliefert oder auf ihre Hilfe angewiesen sind, sei es als Parteien, Angeklagte, Mandant*innen oder Bürger*innen. Sie sollen Autoritäten kritisch hinterfragen. Wir wollen, dass die Justiz die Vielfalt der Gesellschaft widerspiegelt.
Die Jurist*innenausbildung ist uns wichtig, weil nicht nur die Justiz, sondern auch viele andere wichtige Entscheidungspositionen in Wirtschaft, Regierung und Verwaltung mit Jurist*innen besetzt sind. Wie Jurist*innen ausgebildet werden, hat Auswirkungen auf viele Lebensbereiche. Viele Diskurse sind rechtlich überformt, viele Argumente werden juristisch legitimiert oder delegitimiert.
Jurist*innen haben eine wichtige Rolle darin, Rechtsstaat und Demokratie zu verteidigen, gerade in Zeiten, in denen autoritäre oder rechte Gesinnungen in der Gesellschaft und in Institutionen verstärkt auftreten. Hierzu müssen sie in der Jurist*innenausbildung befähigt werden.
Die Stoffmenge mit einem Schwerpunkt auf Einzelproblemen, der große Leistungsdruck und diskriminierende Strukturen in der Ausbildung führen dazu, das diese Ziele nicht immer erreicht werden. Häufig werden gerade diejenigen belohnt werden, die sich bestmöglich an die vorherrschenden Strukturen anpassen, ohne die eigene Rolle kritisch zu hinterfragen.
Weil Jurist*innen an das demokratisch gesetzte Recht und Gesetz gebunden sind, entspricht es ihrer Rolle, dieses anzuwenden. Eine breitere, interdisziplinäre Ausbildung ist aber wichtig, um eigene Vorverständnisse einzuordnen, problematische Zustände zu erkennen und so die eigene Rolle im rechtsstaatlichen System zu erfüllen.
Wenn wir umfassend ausgebildete Jurist*innen haben, wird unser Rechtsstaat gerechter für alle und bleibt krisenfest.
Um eine Generation von Jurist*innen auszubilden, die Recht fachlich richtig, reflektiert und verantwortungsbewusst setzt und anwendet, müssen wir die Prüfungsinhalte und das Prüfungsverfahren an dieses Ziel anpassen.
Maßvolle Reduktion des Prüfungsstoffs
In Prüfungen muss bewiesen werden, das angehende Jurist*innen das Recht mit Verständnis anwenden können und über die dazu erforderlichen Kenntnisse verfügen. Dabei sollte das systematische Verständnis und die Fähigkeit zu methodischem Arbeiten im Vordergrund stehen. Diese Grundsätze sind schon heute in den einschlägigen Normen geregelt sind (DRiG, JAG Berlin, JAO Berlin).
Die Stofffülle, die angehenden Jurist*innen im Examen bekannt sein muss, steigt stetig an. Neue Urteile werden gefällt, neue Lehrmeinungen entwickelt. “Alte” Inhalte werden nicht in gleichem Maße irrelevant. Auch der steigende Einfluss des europäischen Rechts hat zu einer Verdichtung der Studieninhalte geführt. Wenn Studierende mit dieser Entwicklung mithalten und gleichzeitig die juristischen Grundlagen nicht vernachlässigen sollen, müssen sie entlastet werden.
Deshalb fordern wir, den prüfungsrelevanten Stoff maßvoll zu reduzieren. Im Zentrum der juristischen Prüfungen muss die Fähigkeit zu juristischem Arbeiten stehen und nicht das Erinnern möglichst vieler Spezialprobleme.
Stärkung der Grundlagenfächer
Innerhalb der Jurist*innenausbildung muss mehr Wert auf Grundlagenfächer gelegt werden. Zu einer umfassenden Jurist*innenausbildung gehört es, die Grundlagen und Hintergründen des Rechts zu kennen. Das dazu erforderliche historische, philosophische, politische und soziologische Wissen sowie die bewusste Auseinandersetzung mit der juristischen Methodik schaffen die Voraussetzung für
eine reflektierte juristische Tätigkeit. Interdisziplinären Fähigkeiten müssen gestärkt werden, um mündige, kritische Jurist*innen auszubilden, die verantwortungsvolle Aufgaben innerhalb der Gesellschaft wahrnehmen.
Anti-Diskriminierung, Gender- und Diversity-Kompetenz
Wir wollen, dass Rechtsfragen im Zusammenhang mit Diskriminierung, Hierarchien und Ungleichheiten sowie Gender- und Diversity-Kompetenz als juristische Kernkompetenzen anerkannt werden. Dem soll in der Ausbildung sowie in den Prüfungen Rechnung getragen werden.
Verbesserung des Prüfungsverfahrens
Das Prüfungsverfahren ist so ausgestaltet, dass es eine diskriminierungsfreie, an fachlichen Fähigkeiten orientierte Bewertung ermöglicht und strukturelle Ausschlüsse marginalisierter Personengruppen nicht verstärkt, sondern abbaut. Künstlicher Stress, der die berufliche Realität nicht reflektiert, erfüllt keinen Zweck, aber führt bei vielen angehenden Jurist*innen zu erheblichen psychischen Belastungen. Er ist durch eine Anpassung der Rahmenbedingungen abzubauen.
Das trägt dazu bei, dass perspektivisch eine größere Diversität in der Justiz erreicht wird, die zu besseren Entscheidungen und einem besseren Rechtssystem für alle führt.
Um diese Meilensteine zu erreichen müssen wir bei den folgenden Maßnahmen ansetzen.
Beginn der Kürzung des Prüfungsstoffs
Um den Prüfungsstoff zielgerecht zuzuschneiden, wird geprüft, an welchen Stellen sinnvollerweise gekürzt werden kann. Einschnitte bei Nebengebieten werden kompensiert, weil Methoden erlernt werden, mit denen es möglich ist, sich – wenn nötig – zu einem späteren Zeitpunkt in die entsprechenden Gebiete einzuarbeiten. Nicht alles, was relevant ist, muss in den (staatlichen) juristischen Prüfungen geprüft werden.
Schwerpunktstudium
Vorschläge, das Schwerpunktstudium abzuschaffen oder seine Bedeutung zu schmälern lehnen wir ab. Die Note aus dem Schwerpunktstudium muss daher vielmehr stärkere Berücksichtigung bei der Gesamtnote erfahren.
Das Schwerpunktstudium ermöglicht breitere Perspektiven auf Nebengebiete und Grundlagenfächer und fördert die Ausbildung eigener Interessen sowie die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Recht. Es trägt dazu bei, die systematische Rechtsanwendung zu verbessern und die Reflexionskompetenz zu vertiefen. All das sind Ausbildungsziele, die nicht entbehrlich sind und vom staatlichen Teil der Prüfung nicht getrennt werden können. Nur beide Prüfungsbestandteile können gemeinsam Auskunft über eine umfassende juristische Qualifikation geben.
Förderung der kritischen Rechtswissenschaft
Die juristischen Fakultäten werden darin unterstützt, kritische Rechtswissenschaft zu fördern und Lehrangebote in diesem Bereich auszuweiten. Kritische Zugänge zum Recht, etwa in der Tradition der Denkschulen der Critical Legal Studies, der Critical Race Theory und der feministischen Rechtswissenschaft, bereichern die dogmatisch dominierte Rechtswissenschaft und das juristische Studium. Sie ermöglichen es den Studierenden im Besonderen, den Zusammenhang von Recht und gesellschaftlichen Machtverhältnissen und ihre eigene Position darin zu reflektieren. Das Land kann die juristischen Fakultäten dabei unterstützen, diese Ansätze verstärkt in den Blick zu nehmen.
Diskriminierungsfreie Prüfungsgestaltung
Jeder Prüfungskommission muss mindestens eine Frau angehören. Studien haben gezeigt, dass rein männlich besetzte Prüfungskommissionen zu schlechteren Prüfungsergebnisse bei Frauen führen. Deshalb sind entsprechende Konstellationen schnellstmöglich zu vermeiden.
Solange die Mitwirkung einer Frau in allen Prüfungskommissionen nicht gewährleistet ist, soll eine Antidiskriminierungsbeauftragte anwesend sein, die während der Prüfung sowie Beratung anwesend ist und außerdem als Ansprechpartnerin für die zu prüfenden Personen dient.
In Examensfällen sollen keine (Geschlechter-)Rollenstereotype perpetuiert werden. Wir wissen aus Studien, dass Frauen in der Mehrzahl der Fälle gar nicht vorkommen, nur durch ihre Relation zum Protagonisten definiert oder stereotyp dargestellt werden. Typisch für juristische Fälle ist es außerdem, dass Menschen mit “nicht-deutschen” Namen wenn überhaupt als Täter in strafrechtlichen Fällen vorkommen. Die Fallgestaltung an Universitäten unterfällt der Wissenschaftsfreiheit. Bei Fällen im staatlichen Teil der juristischen Prüfungen muss aber darauf geachtet werden, dass diese nicht auf Stereotype zurückfallen.
Wir wollen umfassend wissenschaftlich untersuchen, wo Benachteiligungen für Frauen und marginalisierte Gruppen in der Jurist*innenausbildung liegen, damit wir diese abbauen können.
Breitere Perspektiven auf die juristische Praxis
Während des Studiums oder Referendariats soll zumindest ein Praktikum oder eine Station bei einer gemeinnützigen Organisation abgeleistet werden. Hierdurch sollen Jurist*innen dazu bewegt werden, Einblicke in die Tätigkeiten von dem Gemeinwohl dienenden Einrichtungen zu erlangen, die dem Staat häufig kritischer gegenüberstehen. So wird innerhalb der Ausbildung ein Perspektivwechsel trainiert.
Familienfreundliche Ausgestaltung der Ausbildung
Das Teilzeitreferendariat wird nach der notwendigen Änderung des Deutschen Richtergesetzes zeitnah eingeführt. Um Benachteiligungen im beruflichen Fortkommen zu vermindern, sollen Zeiten der Kinderbetreuung zukünftig bis zu einem gewissen Umfang auf die Probezeit angerechnet werden.
E-Examen
Die Möglichkeit digitaler Examensklausuren wird geschaffen, um das handschriftliche Verfassen von Klausuren zu beenden. Das handschriftliche Verfassen von Gutachten unter Zeitdruck führt bei vielen angehenden Jurist*innen zu physischen Beeinträchtigungen. Mit der Einführung des E-Examens legen wir den Fokus auf eine fachlich und methodisch anspruchsvolle Fallbearbeitung statt auf
physische Fähigkeiten und Vorbedingungen.
Verbesserung der Prüfungsbedingungen
Examensklausuren werden “blind” doppelt korrigiert, um eine möglichst gerechte Bewertung zu erreichen.
Klausuren können “abgeschichtet” werden, um eine psychische und/oder physische Überbelastung zu vermeiden.
Es wird geprüft, inwieweit eine Klausurbearbeitung mit Hilfsmitteln (z.B. Gesetzeskommentaren) dazu beitragen kann, den Fokus auf die systematische Lösung und weniger auf das Auswendiglernen von Einzelproblemen zu verschieben.
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