Beschluss: Die Jüngsten und Abgehängten zuerst

23.04.20 –

Beschluss der Landesarbeitsgemeinschaft Bildung - Bündnis 90 / Die Grünen Berlin - vom 22. April 2020 zur Wiederaufnahme und Durchführung des Schulbetriebs in Corona-Zeiten

Hauptziele bei der Wiederaufnahme des Schulbetriebs

  • Verbreitung des Coronavirus an den Schulen nicht zu begünstigen. Dabei sind aktuelle Erkenntnisse der Wissenschaft zu berücksichtigen.
  • Verschlechterung von allgemeinen Bildungs- und damit Lebenschancen durch Unterrichtsausfall gering halten.
  • Weitere Verstärkung der soziale Bildungsbenachteiligung eines Teils der Schüler*innenschaft abmildern.
  • Elternschaft in Teilen zu entlasten und ihnen die dadurch Möglichkeit zu geben, ihrer geregelten Arbeit wieder (besser) nachgehen zu können.

Position im Hinblick auf die Wiederaufnahme des Kitabetriebs

Der Bildungseinrichtung Kita kommt große Bedeutung zu nicht nur als systemrelevante Betreuungseinrichtung, die den Eltern ermöglicht, ihrer Erwerbsarbeit nachzugehen, sondern auch für die frühkindliche Bildung. Die sogenannte Notbetreuung muss daher deutlich vor dem 1.8.2020 schrittweise ausgeweitet werden, im ersten Schritt auf alle Familien, die ansonsten von Arbeitslosigkeit und sonstigen unzumutbaren Belastungen bedroht wären. Dazu gehören insbesondere Alleinerziehende. Bereits in der Kita sollte jedoch der Blick auch auf die besonders bildungsbenachteiligten Kinder gerichtet werden.

Positionen im Hinblick auf die Wiederaufnahme des Schulbetriebs

  1. Die Senatsverwaltung wird aufgefordert, Richtlinien zu erarbeiten die im Sinne von Rahmenvorgaben formulieren, was in diesen Corona-Zeiten von den schulischen Teams erwartet wird. Damit soll den Pädagog*innen Orientierung gegeben und den Schulleitungen der Rücken gestärkt werden bei nicht immer nur populären Maßnahmen. Die Rahmenvorgaben sollen darüber hinaus dazu beitragen, eine einigermaßen vergleichbare Praxis an allen Schulen zu gewährleisten sowie eine faire Lastenverteilung zwischen allen Lehrkräften – ob vor Ort oder im Homeoffice – sowie zwischen den unterschiedlichen Professionen, die an Schule tätig sind.
  2. Die Schulen erhalten gemäß des Berliner Schulgesetzes, ihres Schulprofils und ihrer Schüler*innenschaft und im Hinblick auf die baulichen- und räumlichen Gegebenheiten innerhalb dieser Rahmenvorgaben einen weiten Ermessensspielraum bei der Organisation des Unterrichts in Corona-Zeiten. Wir vertrauen darauf, dass die Schulen in ihrem Umfeld die besten Problemlösungen im Interesse der jeweiligen Schüler*innenschaft finden. Die organisatorischen Maßnahmen sind mit den Eltern- und (ab der Oberstufe) den Schüler*innengremien so weit wie möglich abzustimmen.
  3. Die Hygienestandards an allen Schulen müssen deutlich verbessert werden. Hierzu gehören u.a. Spender mit Desinfektionsmitteln an den Ein-/Ausgängen sowie mindestens eine Tagesreinigung.
  4. Bei der schrittweisen Wiederaufnahme des Schulbetriebs dürfen nicht nur die Prüfungsjahrgänge im Mittelpunkt stehen. Besondere Bedeutung haben für uns die Grundschulen, die die unverzichtbaren Grundlagen für die weitere Bildungsentwicklung der Kinder legen. Bei diesen Jüngeren sowie gerade bei Schülerinnen und Schülern aus sozial benachteiligten Familien spielt die Beziehung zur Lehrkraft eine besondere Rolle. Ein- bis zweimal pro Woche sollen diese Schülerinnen und Schüler und die Lehrkräfte daher aktiv miteinander kommunizieren. Dafür sollen alle Wege genutzt werden, die den regelmäßigen Kontakt fördern. Das kann die direkte telefonische oder digitale Kommunikation sein. Überall dort, wo es möglich ist, sollte die Kommunikation im realen Raum stattfinden, zum Beispiel über Schüler*innensprechstunden, in denen bei ausreichendem Abstand über schulische oder persönliche Erfahrungen und Fragen gesprochen wird.
    Um dabei die Regeln der Eindämmungsverordnung dennoch einhalten zu können, sollten für die Lern- bzw. Begegnungsräumen Zeiten für kleine feste Gruppen oder für 1:1-Gespräche in der Schule definiert werden. Gespräche können auch im Freien oder in derzeit ansonsten nicht genutzten Räumen wie Sporthallen, Vereinsräumen und Bibliotheken geführt werden. Die jeweils angemessene Gruppengröße muss den räumlichen Bedingungen vor Ort angepasst werden.
    Eine deutliche Reduzierung der Klassengröße und alternierender Unterricht (z.B. nachmittags/vormittags/an bestimmten Wochentagen) ist eine weitere Möglichkeit, die Übergangszeit unter Wahrung der Vorschriften zu nutzen. Fächer könnten in Präsenzphasen und Homeschooling aufgeteilt werden. So könnten immerhin mehr Kinder und Jugendliche aus ihrer kompletten Kontaktsperre herauskommen. Die jeweils angemessene Gruppengröße muss den räumlichen Bedingungen vor Ort angepasst werden.
  5. Wir fordern auch die Wiedereröffnung der Musik- und Volkshochschulen mit entsprechenden Konzepten zur Einhaltung der Kontaktregeln. Dies scheint vor dem Hintergrund meist ohnehin kleinerer Lerngruppengrößen sowie ihrer großen zeitlichen Flexibilität verantwortbar. Dies sichert nicht nur die prekäre Gruppe der Dozent*innen finanziell ab. Die musische, kulturelle und sprachliche Bildung an diesen Einrichtungen stellt überdies eine wichtige Ergänzung zu den schulischen Angeboten dar – nicht nur für Geflüchtete.
  6. Für Schüler*innen mit Lernschwierigkeiten und sonderpädagogischem Förderbedarf, Schüler*innen in Willkommensklassen oder Schüler*innen, die zuhause nicht in Ruhe lernen können oder keine technische Ausstattung zum E-Learning haben, gibt es an allen Oberschulen und OSZ tägliche Angebote in kleinen Gruppen bis maximal 8 Schüler*innen.
  7. Für alle Stufen/ Schularten gilt:
    • Die Lehrkräfte tauschen sich mit den anderen pädagogischen Professionen, insbesondere der Schulsozialarbeit, darüber aus, welche Schüler*innen aufgrund ihres Lernvermögens oder ihrer häuslichen Situation mit hoher Verbindlichkeit eine Aufforderung zum Teilnahme an den schulischen Unterrichtsangeboten erhalten sollten. Die Schule organisiert mit den Pädagog*innen die Kontaktaufnahme mit den Eltern dieser Schüler*innen und vereinbart verbindliche Unterrichts- und Beratungszeiten. Es muss sichergestellt werden, dass Kinder in belastenden oder gar das Kindeswohl gefährdenden Lebenssituationen nicht über Monate aus dem Blick geraten.
    • Die Senatsverwaltung wird aufgefordert, eine Verordnung zu erarbeiten, in der festgelegt wird, welche außerhalb der Schule (zumeist zuhause) erarbeiteten Schülerleistungen während dieser Corona-Zeit in welcher Form in die Jahresnoten einfließen dürfen, auch wenn seitens der Schule nicht zweifelsfrei festgestellt werden kann, wer die Leistung erbracht hat.
    • Zudem soll der Teil der Sek I-Verordnung, die Lehrkräfte dazu verpflichtet, 4 Klassenarbeiten im Jahr zu schreiben, für dieses Schuljahr ausgesetzt werden. Für dieses Schuljahr reichen 2 KA aus.
    • Anträge auf freiwillige Wiederholung sollen in jedem Falle gewährt werden.
    • Das Probejahr an Gymnasien wird ausgesetzt.
    • Wenn eine Mund-Nasenbedeckung an Schulen verpflichtend sein soll, dann müssen für alle Schüler*innen und Pädagog*innen ausreichend medizinischen OP-Masken von den Schulträgern zur Verfügung gestellt werden, ohne dass damit das Schulbudget belastet wird. Eine Maskenpflicht für die Schüler*innen mit von den Eltern selbst beschafften Stoffmasken ist abzulehnen. Die Pädagog*innen können nicht gewährleisten und auch kontrollieren, dass alle Kinder jeden Tag einen hygienisch einwandfreien Mund-Nasenschutz tragen. Der Nutzen von einfachen Mund-Nasen-Bedeckungen ist überdies sehr begrenzt.
  8. Gerade in Berlin stehen schon bald die Sommerferien an und die Schließungen setzen sich quasi als Ferienzeit weiter fort – nur dass in diesem Jahr die Schule ja schon monatelang die Türen geschlossen hatte. Deshalb sollten bis spätestens zu und in den Sommerferien Freizeitangebote für Schülerinnen und Schüler organisiert werden, die in kleinen festen Gruppen einen Ausweg bieten, die soziale Isolation nicht noch weiter verstärken und die Zugänge zu Bildung offenhalten. Vielen Kulturschaffende, Trainerinnen, Dozenten sind derzeit ihre Betätigungsfelder weggebrochen. Studierende haben ihre Jobs verloren. Wir haben die Chance, die Sommerferien mit Angeboten wie Sommercamps an den Kitas und Schulen zu füllen und so gegen die sozialen und pädagogischen Verluste der Corona-Krise anzuarbeiten. Ziel ist es dabei nicht einen verkappten Ferien-Unterricht anzubieten, sondern ein anregendes Freizeitprogramm in festen Kleingruppen.

Positionen im Hinblick auf die Abschlussprüfungen im laufenden Schuljahr

Für die Abschluss- und Übergangs-Jahrgänge gibt es durch die MPK- bzw- KMK-Beschlüsse nun ein Datum. Wir hätten uns gewünscht, dass die Verpflichtung zur Teilnahme an den mittleren Abschlüssen in allen Schularten für dieses Schuljahr ausgesetzt worden wäre und wie in anderen Bundesländern die Prüfungen für die Anerkennung der Abschlüsse nicht verlangt worden wären. Wir nehmen den Hinweis auf rechtliche Hürden und den Wunsch eines gemeinsamen Vorgehens insbesondere mit Brandenburg aber ernst. Vor allem aber ist es wichtig, die Familien und die Schulen nicht mit weiterem Prüfungs-Hin-und-Her zu verunsichern.

Wir begrüßen ausdrücklich, dass die Senatsverwaltung über die KMK-Einigung hinaus mit den Schulleitungen aller Schularten eine Einigung zu einer verschlankten MSA-Prüfung gefunden hat, mit der gewährleistet ist, dass vor allem auch die Schüler*innen in den IBA-Bildungsgängen über das erforderliche Zertifikat verfügen, das ihnen den Übergang in Ausbildung oder weiterführende Bildungsgänge ermöglicht.

An den beruflichen Schulen kann ab dem 27. April nunmehr die Integrierte Berufsausbildungsvorbereitung IBA mit der Vorbereitung auf ihre Abschlüsse zur erweiterten Berufsbildungsreife und zum MSA starten. Ab dem 4. Mai kommen die Abschlussjahrgänge der Berufsschule zur Vorbereitung auf die Abschlussprüfungen der Kammern aller dualen Ausbildungen in die Schulen sowie die Abschlussjahrgänge der Berufsfachschule, Abschlussjahrgänge der Fachoberschule, Abschlussjahrgänge der Berufsoberschule und die Abschlussjahrgänge der Fachschulen.

Die Ausbildungsbetriebe erinnern wir an die Regelungen des §15 (1) Nr.1 Berufsbildungsgesetz, wonach die Auszubildenden für die Teilnahme am Berufsschulunterricht, auch wenn dieser im Homeoffice stattfindet, freizustellen sind.

Begleitende Maßnahmen

  1. Die Schulleitungen müssen schnell und verlässlich in Erfahrung bringen, welches Personal in ihren Einrichtungen der COVID-19-Risikogruppe zuzurechnen ist und aus diesem Grund nur im Home Office oder gar nicht zur Verfügung steht. Hierzu benötigen die Schulleitungen Unterstützung durch die zuständige Schulaufsicht.
  2. Es gibt ein begleitendes medizinisches Monitoring seitens der bezirklichen Gesundheitsämter, das die Einhaltung der Hygieneanforderungen prüft und mit Hilfe regelmäßiger Stichprobentests bei Schüler- und Lehrer*innen frühzeitig vor einer unerwartet starken Verbreitung warnen kann.
    Es muss sichergestellt werden, dass sich an den Schulen keine Viren-Hotspots entwickeln. Falls es an den Schulen zu unerwartet hohen Neuinfektionen kommt, müssen entsprechende Gegenmaßnahmen ergriffen werden. Außerdem kann ein solches Monitoring den Ängsten vieler Eltern entgegenwirken.
  3. Es gibt ein qualitatives Monitoring durch die zuständigen Schulaufsichten, das prüft, ob die wesentlichen Ziele der Maßnahmen (Wiederaufnahme eines halbwegs geregelten Unterrichts, Anbindung aller Schüler*innen an das Schulgeschehen) erreicht werden, so dass ggf. nachgesteuert werden kann bzw. Unterstützung geleistet werden kann. Eventuell kann hierfür auch auf das Personal und die Strukturen der Schulinspektion zurückgegriffen werden.
  4. Schnellstmögliche Wiederaufnahme des Fortbildungsbetriebs für Lehrkräfte auf der Basis des Lernraums und anderer elektronischer Werkzeuge mit dem Schwerpunkt Unterricht mit digitalen Mitteln sowie Erhebung des Fortbildungs-bedarfs.
    Denn auch wenn die Schulen teilweise wiedereröffnet werden, wird Homeschooling auch künftig eine wesentliche Rolle spielen. Darauf sind aber viele Lehrer*innen noch immer nicht vorbereitet. Hier sollte die bestehende Situation genutzt werden, die digitalen Kompetenzen der Lehrkräfte in technischer und didaktischer Hinsicht auszubauen.
  5. Neben dem Lernraum Berlin nutzen wohl fast alle Schulen unterschiedliche, zusätzliche Tools und Lernprogramme. Auch für dieses „Reallabor Digitalisierung“ wird ein Montoring eingerichtet, um aus der tatsächlichen Nutzung hilfreiche Schlüsse für das zukünftige Lernen im digitalen Zeitalter und die dafür landesseitig notwendige technische und personelle Ausstattung zu ziehen.
  6. Einrichtung eines Austauschforums, mit dessen Hilfe Schulen und Lehrkräfte sich über die Umsetzung der Schulöffnung austauschen und sich gegenseitig unterstützen können.
    Die Wiederöffnung wird Schulen und Lehrer*innen vor hohe Anforderungen stellen, für die sie aufgrund ihrer unterschiedlichen Ausgangsbedingungen häufig individuelle Lösungen finden müssen. Allgemeingültige Rezepte werden nicht immer helfen. In dieser Situation wäre es hilfreich, wenn es einen Ort gäbe, wo Lehrkräfte und Schulleitungen ihre Ideen diskutieren und Erfahrungen austauschen könnten.

LAG Bildung Berlin
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