Förderung der Mehrsprachigkeit durch Entfaltung der herkunftssprachlichen Kompetenzen

29.09.21 –

Beschluss der LAG Bildung, Bündnis 90 / Die Grünen Berlin vom 29. September 2021

Wir begrüßen sehr, dass mit der vollständigen Neufassung des § 15 SchulG die gesetzliche Grundlage für einen Paradigmenwechsel gelegt wurde, der – weg von dem defizitorientierten und diskriminierenden Label „nichtdeutsche Herkunftssprache“ – die breite Förderung von Zwei- und Mehrsprachigkeit sowie die Anerkennung und Entwicklung gerade auch der diversen Herkunftssprachen zum Ziel hat.

Eine Ressourcen-orientierte Sprachförderung für Kinder und Jugendliche mit einer anderen Herkunftssprache als Deutsch wird sich gemäß dieser gesetzlichen Festlegung auf zwei Säulen stützen:

  • Vermittlung der deutschen Sprache.

  • Anerkennung und Förderung der Kompetenzen in der Herkunftssprache.

Diese beiden Säulen stehen nicht im Widerspruch zueinander, sondern pädagogische Praxis und wissenschaftliche Forschung haben erwiesen, dass eine hohe Kompetenz in der Erstsprache eine wichtige Voraussetzung für den Erwerb hoher Kompetenz auch in der Zweitsprache ist (darüber hinaus ist Bilingualität auf hohem Niveau auch sehr förderlich für den Erwerb weiterer Sprachen)

Um die zweite Säule „Herkunftssprache“ angemessen auszubauen, ist Folgendes nötig:

  • Statistische Erfassung, wie im neuen § 15 SchulG vorgeschrieben, als Grundlage für alle Entscheidungen: Welche Herkunftssprachen werden von wie vielen Kindern in und vor dem Schuleintritt gesprochen, wie verteilt sich das regional? 

  • Herkunftssprachlicher Unterricht (HSU) auf Grundlage des hierfür geltenden Rahmenlehrplans1 in möglichst vielen Sprachen, ggf. – bei geringer Schüler*innenzahl – schul- oder bezirksübergreifend oder auch im digitalen Fernunterricht.

  • HSU in der Grundschule (1. bis 6. Klassenstufe) inklusive Alphabetisierung:

    • 3-4 Unterrichtsstunden wöchentlich.

    • 1 Stunde davon nach Möglichkeit im Sachunterricht (in Kooperation mit der Lehrkraft Sachunterricht).

    • In Klasse 1 bis 4 nach Möglichkeit in den Stundenplan integriert (vgl. z.B. Religions- und Weltanschauungsunterricht).

    • In Klasse 5 und 6 parallel zu anderen Wahlpflichtkursen.

    • Aufnahme als Fach mit Leistungsbeurteilung ins Zeugnis.

  • HSU in der Sekundarstufe I:

    • Von der 7. bis zur 10. Klassenstufe.

    • 3 Wochenstunden, als Wahlpflichtfach (ISS) oder anstelle des Unterrichts in einer Fremdsprache (Gymnasium).

    • Nach Möglichkeiten der Schule: Sachfachunterricht in der Herkunftssprache (CLIL2), siehe weiter unten.

    • Anerkennung der Herkunftssprache als „Zweite Fremdsprache“ (Voraussetzung für Aufnahme in Sek II) – Grundlage:

      • Teilnahme am HSU oder

      • nachgewiesener Unterricht in einem Land der Herkunftssprache oder

      • Sprachprüfung, durchgeführt von SenBJF auf Niveau B1 in der 10. Klasse.

  • HSU in der gymnasialen Oberstufe (Beispiel: Hamburg):

    • Grund- und Leistungskurse in den Herkunftssprachen, die in Grundschule und Sek I angeboten werden.

    • Möglichkeit der Abiturprüfung in diesen Sprachen.

  • Bedarfsgerechte Ausweitung des ZWERZ-Modells3 (Türkisch-Deutsch) auf andere Sprachen: Zweisprachige Erziehung (einschließlich zweisprachiger Alphabetisierung; Kl. 1 bis 6: 3-5 Stunden für türkischsprachige, freiwillig 2 Stunden für deutschsprachige Kinder).

  • Sogenannter bilingualer Sachfachunterricht (CLIL):

    • Bilingualer-Unterricht in möglichst vielen Sprachen, verbunden mit dem jeweiligen HSU-Angebot einer Schule.

    • Statt bisher hauptsächlich an Gymnasien, künftig verstärkt auch an ISS.

    • Hier sind zahlreiche Varianten möglich, z.B.:

      • Alle Schuljahre oder einzelne Schuljahre,

      • Ein Fach oder mehrere Fächer durchgängig,

      • Einzelstunden ergänzend zum deutschsprachigen Unterricht,

      • epochal wiederkehrend,

      • einzelne Unterrichtseinheiten,

      • in Projektwochen o.ä.

  • Staatliche Europa-Schule Berlin (SESB): 

    • neue Standorte, vor allem in Grundschulen, aber auch im Rahmen neu zu gründender Gemeinschaftsschulen, nach Bedarfserfassung und v.a. in den östlichen Bezirken.

    • Neue Sprachen-Kombinationen.

  • Neue Modelle: Denkbar und konkret zu designen sind neue Unterrichtsmodelle für neue Sprachkombinationen, die Strukturmerkmale der SESB in unterschiedlichem Maß übernehmen, aber hierin flexibel sind, z.B.:

    • Zwei gleichberechtigte Unterrichtssprachen bis 10. Klasse und Flexibilität des Sprachenverhältnisses in der Oberstufe.

    • Ein anderes proportionales Verhältnis der beiden Sprachen, z.B. ein höherer Deutsch-Anteil bei den Sachfächern oder epochaler bzw. jahrgangsweiser Sprachwechsel in einem / mehreren Sachfächern.

  • Nutzung der Lehrkompetenzen herkunftssprachlicher Lehrkräfte an den SESB-Standorten (Voraussetzung: entsprechender Personalschlüssel):

    • HSU für Schülerinnen und Schüler, die nicht die SESB-Klassen besuchen. 

    • Fremdsprachenangebote (wird in etlichen Sek-Standorten bereits praktiziert) für die Schülerinnen und Schüler der Regelzüge auch in den Grundschulen.

  • Zugang, Aus- und Fortbildung sowie Gleichstellung von Lehrkräften mit ausländischer Qualifikation verbessern entsprechend den Forderungen der GEW (Beschluss des Landesvorstands vom 25. Januar 2021).4


1) In diesem Rahmenlehrplan werden sowohl die sprachlichen als auch die interkulturellen Zielkompetenzen festgeschrieben.

2) Content and Language Integrated Learning (CLIL).

3) https://bildungsserver.berlin-brandenburg.de/fileadmin/bbb/unterricht/faecher/sprachen/zweisprachige_erziehung/Dateien-Dokumente/ZWERZ-Flyer_d_01.pdf.

4) https://www.gew-berlin.de/fileadmin/media/publikationen/be/Gesellschaftspolitik/Beschluss---Ausl--ndische-Lehrkr--fte-an-die-Schulen.pdf.


Beschlussvorlage eingebracht von Willi Stotzka, Carola Ehrlich-Cypra, Fiona El Kehal, Özcan Mutlu, Stefanie Remlinger, Fabian Schlecht.