Für ein freiheitsfreundliches Polizei- und Versammlungsfreiheitsrecht in Berlin

17.04.19 –

Beschluss der Landesdelegiertenkonferenz am 06.04.2019

Politik muss von Realitäten ausgehen. Während die Polizei in Bund und Ländern mit immer mehr Kompetenzen ausgestattet wurde, deren Beitrag zur öffentlichen Sicherheit zweifelhaft ist, sind die Grund- und Freiheitsrechte ständig abgebaut worden. Bündnis 90/Die Grünen wollen Grund- und Freiheitsrechte stärken. Denn die tatsächlichen Bedrohungen der inneren Sicherheit gehen nicht von Menschen aus, die ihre demokratischen Rechte ausüben!

Öffentliche Sicherheit wird viel eher durch funktionierende Polizeiarbeit, als durch ausufernde Zuständigkeiten und neue – oft planlos in die Gesetze aufgenommene – Eingriffsbefugnisse hergestellt. Viele Berliner Polizist*innen leisten gute Arbeit in einem schwierigen und anspruchsvollen Beruf. Wir setzen deshalb auf eine besser bezahlte und qualifizierte Polizei, die im Notfall schnell helfen kann und die Kriminalität professionell und grundrechtsschonend bekämpft. Allerdings kommt es auch bei der Polizei zu Fehlverhalten, das nicht toleriert werden kann. Eine friedliche Sicherheitsarchitektur muss die Begegnung von Berliner*innen und Polizist*innen auf Augenhöhe ermöglichen. Infolge der Entwicklungen der letzten Jahre ist deswegen vor allem eine Stärkung der Grund- und Freiheitsrechte nötig und möglich, um dieses Verhältnis wieder in ein gerechtes Maß zu bringen und mehr Transparenz zu schaffen. Deswegen fordern wir:

Die Polizeibeauftragte muss zeitnah kommen!

Wie in jeder mit Macht ausgestatteten Institution, besteht auch bei der Polizei ein Risiko des Machtmissbrauchs. Gerade die Polizei kann sich als Trägerin von Staatsgewalt einer unabhängigen Kontrolle entziehen – das gilt vor allem vor dem Hintergrund, dass sie die Ermittlungen im strafrechtlichen Bereich grundsätzlich selbst durchführt.

Eine effektive Fehlerkultur innerhalb der Polizei gerät oft zwangsläufig in Konflikt mit internen Solidaritätsstrukturen. Das erschwert die Identifikation einzelner Verantwortlicher. Ein verantwortungsbewusster, angstfreier und konstruktiver Umgang mit Fehlhaltungen und Fehlleistungen braucht professionelle und beständige kritische Prüfung und Anleitung zur Selbstprüfung. Deshalb bedarf es einer Instanz, an die sich sowohl Polizist*innen, als auch Berliner*innen bei Missständen wenden können: der bzw. des Polizeibeauftragten. Fälle wie die Schießstandsaffäre, Vorgänge an der Polizeiakademie, der tragische Tod der Fabien M., die durch die Eilfahrt eines mutmaßlich betrunkenen Polizisten zu Tode gekommen ist und etliche Beschwerden über unangemessenes Verhalten im Alltag sind geeignet, das Vertrauen in die Polizei und den Rechtsstaat zu erschüttern. Bündnis 90/Die Grünen Berlin fordern deswegen schon seit langem eine unabhängige Polizeibeauftragte, die außerhalb der Polizei angesiedelt ist. Wir fordern die rot-rot-grüne Koalition auf, diese Stelle endlich einzurichten.

Die oder der Polizeibeauftragte muss unabhängig und mit umfassenden Kompetenzen ausgestattet sein. Dazu gehören ein Akteneinsichtsrecht und ein ungehinderter Zugang zur Behörde. Die Zuständigkeit der bzw. des Polizeibeauftragten sollte außerdem nicht auf Grund laufender gerichtlicher Ermittlungs- und Disziplinarverfahren ausgeschlossen werden. Ferner müssen Bürger*innen mehrere Monate Zeit haben, um zu entscheiden, ob sie sich an die bzw. den Polizeibeauftragte*n wenden.

Ein liberales Versammlungsrecht

Die rot-rot-grüne Koalition hat in ihrem Koalitionsvertrag festgeschrieben, dass das kommende Berliner Versammlungsrecht als Vorbild für demokratiefördernde und grundrechtsbezogene Versammlungsgesetze dienen soll. Berlin ist die Hauptstadt der Demonstrationen: auf etwa 5000 Demos im Jahr gehen die Berliner*innen für unterschiedlichste Anliegen weitestgehend friedlich auf die Straße und leisten so einen unverzichtbaren Beitrag in der politischen Auseinandersetzung. Es wird Zeit, dass das Versammlungsrecht dies nachvollzieht und die Versammlungsbehörde vom polizeilichen Staatsschutz loslöst. Die Versammlungsfreiheit ist ein demokratisches Grundrecht und in der Regel keine Gefahr für die öffentliche Sicherheit.

Deshalb darf das Berliner Versammlungsgesetz nicht hinter dem Schleswig-Holsteinischen zurückbleiben. Dieses Gesetz und die Überlegungen von Bündnis 90/Die Grünen in Schleswig-Holstein, Sachsen und in der BAG Demokratie und Recht müssen der Maßstab für das Berliner Gesetz sein, was natürlich – gemäß der Ankündigung – noch liberaler als das in SH sein soll.

Wichtigster Zweck eines liberalen Versammlungsfreiheitsgesetzes ist der weitreichende und effektive Schutz der Versammlungsfreiheit.

Polizeiliche Maßnahmen im Rahmen von Versammlungen müssen sich deshalb nach dem Versammlungs- und nicht nach dem Polizeigesetz richten.

Außerdem bedarf es umfassender Regelungen zur Kooperation von Demonstrierenden und der Polizei. Keinesfalls darf eine Versammlung als grundsätzliche Gefahr begriffen werden. Einschränkungen der Versammlungsfreiheit dürfen nicht aus Gründen der öffentlichen Ordnung, sondern nur bei einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit erfolgen. Die Gründe für eine Einschränkung müssen gesetzlich klar definiert sein, um Interpretationsspielräume der Behörden bei der Gesetzesanwendung zu beschränken. Nur so ist ein angemessener Schutz der Versammlungsfreiheit gewährleistet.

Die polizeiliche Begleitung einer Versammlung ist in vielen Fällen notwendig, um die sichere Durchführung der Versammlung zu gewährleisten. Andererseits kann sie aber auch als einschüchternd empfunden werden und damit einen faktischen Eingriff in die Versammlungsfreiheit darstellen. Deshalb darf die Begleitung einer Versammlung durch die Polizei nur auf einer ausreichend bestimmten gesetzlichen Grundlage und mit einer konkreten Zielsetzung stattfinden.

Aus Transparenzgründen ist es außerdem erforderlich, dass Polizist*innen, die eine angemeldete Demonstration begleiten, für die Demonstrierenden erkennbar sind. Auch dürfen keine personenbezogenen Daten über die Teilnahme an Demonstrationen gespeichert werden, weil es hierfür schon an einem legitimen Zweck fehlt. Die Versammlungsfreiheit umfasst das Recht, sich jederzeit ohne Anmeldung zu versammeln. Deshalb ist eine liberale Regelung für kurzfristig geplante Versammlungen zu schaffen. Das gilt gerade auch für Versammlungen, die die Kriterien des Bundesverfassungsgerichts für Spontan- und Eilversammlungen nicht erfüllen. Die Möglichkeit zur Auflösung solcher Versammlungen wegen einer Nicht-Einhaltung der Anmeldefrist ist ein tiefer und unangemessener Einschnitt in die Versammlungsfreiheit, der verfassungsrechtlich nicht tragbar ist und auch gesetzlich ausgeschlossen sein sollte.

Augenmaß ist auch bei den Anforderungen an die Versammlungsleitung geboten: Je weitreichender hier Pflichten und mögliche Sanktionen begründet werden, umso stärker werden Menschen davon abgehalten, diese Stellung einzunehmen. Das führt zu einer Einschränkung der Versammlungsfreiheit. Deshalb müssen entsprechende Regelungen ebenfalls konkrete, legitime Ziele verfolgen und verhältnismäßig ausgestaltet sein.

Für ein gerechtes Polizeirecht mit Augenmaß

Leitlinie eines modernen Polizeirechts ist der effektive Schutz der öffentlichen Sicherheit und der Freiheitsrechte der Menschen in dieser Stadt. Zwischen beiden Positionen muss ein Ausgleich gefunden werden, der im Zweifel für die Freiheit steht.

Das neue Polizeigesetz soll die tatsächliche und gefühlte Sicherheit der Menschen in Berlin verbessern. Allerdings sehen wir es kritisch, dass Sicherheitsdebatten oftmals vorgeschoben werden, um polizeiliche Überwachungsmöglichkeiten massiv auszuweiten. Die Ausweitung der Videoüberwachung im öffentlichen Raum lehnen wir ab. Gerade in diesem Bereich erleben wir eine Kampagne, die von Desinformation und populistischer Stimmungsmache geprägt ist. Wir stehen dabei für eine Versachlichung der Debatten über zielführende Maßnahmen. Der im Koalitionsvertrag vorgesehene zweijährige Probelauf für Bodycams bei Polizist*innen ist aus unserer Sicht in jedem einzelnen Fall mit einem gravierenden Grundrechtseingriff verbunden. Daher sehen wir das Projekt sehr kritisch. Der Testlauf muss daher klar beschränkt sein. Dafür werden im Vorfeld klare, nachvollziehbare, messbare und wissenschaftlich fundierte Evaluationskriterien vereinbart. Auch muss der Grundsatz gelten: Gleiche Rechte für Polizist*innen und Gefilmte. Beide müssen Zugang zu den aufgenommenen Daten haben. Die Persönlichkeitsrechte der Gefilmten sind zu wahren. Hierzu benötigen die Gefilmten einen gerichtlich durchsetzbaren Anspruch. Auch darf es nicht alleine im Ermessen der Polizei stehen, die Kamera ein- und auszuschalten. Vielmehr soll die Polizei in objektiv konfliktträchtigen Situationen und auf Verlangen der Betroffenen zum Einschalten der Kamera verpflichtet sein. Sollte entgegen dieser Verpflichtung die Kamera nicht oder nicht rechtzeitig eingeschaltet werden und die Aufnahmen daher unvollständig sein, ist im Regelfall ein Verwertungsverbot und ggf. Disziplinarstrafen zu verhängen. Andernfalls besteht die Gefahr, dass eine Kamera etwaiges polizeiliches Fehlverhalten nicht aufzeichnet, da dieses von Polizist*innen naturgemäß ungern aufgenommen wird.

Wir setzen uns für eine digitale Sicherheitspolitik ein, die dem Schutz der Privatsphäre und der Erwartung an die Sicherheit von informationstechnischen Systemen eine wichtige Bedeutung zumisst. Insbesondere lehnen wir daher polizeiliche Befugnisse ab, die in die digitale Privatsphäre der Bürger eingreifen, sofern für die Einführung oder Beibehaltung solcher Maßnahmen schon kein ausreichender Grund besteht oder deren Ausgestaltung zumindest nicht verhältnismäßig ist. Auch die technische Ausführung muss die Einhaltung von Sicherheitsstandards gewährleisten.

Wir erachten normenklare und rechtsstaatlich orientierte Regelungen für den Einsatz neuer Technologien bei der Polizei für sinnvoll und notwendig. Viele Maßnahmen wirken gerade deshalb besonders invasiv, weil sie heimlich erfolgen. Sofern dies möglich und vertretbar ist und den Erfolg der polizeilichen Maßnahmen nicht gefährdet, wollen wir Betroffene im Nachhinein in Kenntnis setzen. Die sogenannte „stille SMS“ lehnen wir ab, sofern sie der Anfertigung von präzisen Bewegungsprofilen dient. Auch die vereinzelte Versendung „stiller SMS“ im Rahmen von Observation wollen wir nur zulassen, soweit die Erforderlichkeit dieser Maßnahme belegt werden kann und die Ausgestaltung der Befugnis dem Verhältnismäßigkeitsprinzip genügt. Insofern bedarf es im Falle einer oder mehrerer stiller SMS im Rahmen der Observation jedenfalls eines Richtervorbehalts und eines restriktiven Anwendungsbereichs, der die Durchführung der Maßnahme auf wenige, besonders bedeutsame Rechtsgüter beschränkt. Telekommunikationsüberwachung – wie etwa Telefonüberwachung – stehen wir im Grundsatz ebenfalls kritisch gegenüber und fordern insofern besonders eindringlich, klare gesetzliche Regelungen der Befugnisse, die sich eindeutig mit Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vereinbaren lassen müssen. Online-Durchsuchungen und Quellen-TKÜ lehnen wir generell ab, weil diese Maßnahmen das Ausnutzen von Sicherheitslücken voraussetzen und damit auf nicht zu rechtfertigende Weise eine verwundbare Infrastruktur schaffen und aufrechterhalten.

Der Einsatz einer Bodycam darf nur zulässig sein, wenn die Datenhoheit des Landes sichergestellt ist. Weder private Unternehmen noch andere Staaten dürfen Zugriff auf die Daten erlangen können. Dafür soll der/dem Landesdatenschutzbeauftragten ein umfängliches Prüfrecht des technischen Vorgangs und die Möglichkeit eingeräumt werden, Verwendung der Bodycams bereits beim bloßen Verdacht auf Verletzungen des Datenschutzrechts zu untersagen.

Das Anbringen von Fußfesseln und weitere Eingriffe im Gefahrenvorfeld lehnen wir ab. Insbesondere die Fußfessel hat sich als wirkungslos und unnötig eingriffsintensiv erwiesen.

Auch dürfen die gesetzlichen Regelungen der Strafprozessordnung, die der Aufklärung bereits begangener Straftaten dienen, nicht kopflos in das präventive Polizeirecht übertragen werden. Vor allem dürfen die strengen gesetzlichen Tatbestandsvoraussetzungen für Eingriffe nicht auch noch hinter den Vorschriften der Strafprozessordnung zurückbleiben.

Ermächtigungen zur Datenerhebung müssen sich streng am verfassungsrechtlich verankerten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit orientieren. Umfassende Datenerhebungen sind daher an enge Tatbestandsvoraussetzungen zu knüpfen, die den Anwendungsbereich der Normen begrenzen: Schwere Grundrechtseingriffe dürfen nur dann erfolgen, wenn schwere Gefahren zu befürchten sind (etwa schwere Straftaten). Die pauschale Erweiterung von Datenerhebungs- und Datenspeicherungsbefugnissen „auf Vorrat“ lehnen wir daher ab, da die damit einhergehende Vorverlagerung dem Übermaßverbot widerspricht. Wir fordern klare Regeln für die Qualitätssicherung von gespeicherten Daten und zur Beachtung von Datenschutzrechten unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Datensparsamkeit. Eine behutsame Kompetenzausweitung wollen wir nur zulassen, wenn die zu lösenden Probleme nicht auf anderem Weg angegangen werden können – etwa durch eine Verbesserung der Datenauswertung, die durch unabhängiges Fachpersonal vorangetrieben und evaluiert werden soll.