24.09.22 –
Beschluss auf der Frauen*Konferenz:
Geschlechterklischees, Rollenbilder und patriarchale Vorstellungen finden sich in unserer Gesellschaft überall. Sie prägen uns von klein auf. Wir übernehmen sie unterbewusst und die sexistischen Denkmuster prägen unser ganzes Leben und unseren Umgang mit anderen. Wir verstehen Geschlechtergerechtigkeit als Chancengerechtigkeit für alle Geschlechter. Für uns ist selbstverständlich, dass es mehr als zwei Geschlechter gibt. Geschlecht ist nicht binär, sondern ein Spektrum. Wir erkennen nicht-binäre Identitäten bei Kindern und Jugendlichen an und unterstützen alle, die an dem ihnen zugeordneten Geschlecht zweifeln. Viele der Weichen, die unser späteres Leben entscheidend beeinflussen werden in unserem Bildungsweg gestellt – in Kita, Schule und darüber hinaus. Berufswahl, Verdienst, aber auch die Absicherung im Alter und unsere Selbstverwirklichung hängt davon ab, welche Entscheidungen wir bewusst und unterbewusst auf unserem Bildungsweg treffen. Wir wollen, dass alle Kinder die Chancen erhalten, sich optimal zu entwickeln und zwar so, wie es zu ihnen passt und für sie am besten ist – fernab von Geschlechterstereotypen, Sexismus und anderen
Diskriminierungsformen. Jedes Kind hat das Recht sich frei zu entfalten. Vorstellungen, wie Jungen oder Mädchen sich zu verhalten haben, was sie interessieren soll und wo sie geschlechtsspezifische Stärken haben, haben dabei keinen Platz. Doch leider sind freie Entfaltungsmöglichkeiten jenseits von Geschlechterklischees und eine feministische Gesellschaft keine Selbstverständlichkeit. Unser Bildungssystem reproduziert gesellschaftliche Verhältnisse und konfrontiert Kinder von Beginn an mit sexistischen Vorurteilen. Dabei ist Bildung einer der entscheidenden Hebel, den wir brauchen, um eine faire und geschlechtergerechte Gesellschaft zu erreichen. Deshalb ist Feminismus ein unverzichtbarer Bestandteil unserer grünen Bildungspolitik.
Wir Grüne Frauen fordern deshalb:
Erzieher*innen und Lehrkräfte haben eine bedeutende Vorbildfunktion für Kinder und Jugendliche. Wenn Erzieher*innen und Lehrkräfte Geschlechterstereotype reproduzieren, verankern sie diese in den Köpfen der Kinder. So setzen sich Rollenklischees fest: Die Jungs gehen draußen toben, Mädchen sollten lieber basteln. Jungs seien gut in Mathe, Mädchen hätten die ordentliche Handschrift. Diese Rollenklischees können die Entwicklungsmöglichkeiten von Kindern einschränken. Wir wollen, dass Kinder ermutigt werden, ihre Wege auch abseits der sozialen, heteronormativen Norm zu gehen. Gleichzeitig können Erzieher*innen und Lehrkräfte auch positive Vorbilder sein und Kinder aller Geschlechter darin unterstützen, ihre Interessen und Fähigkeiten ohne Rollenzwang zu entdecken.
Diesen Aufgaben können Erzieher*innen und Lehrer*innen aber nur gerecht werden, wenn in der Ausbildung und in Fortbildungen entsprechende Kompetenzen gezielt vermittelt werden. Das "Berliner Bildungsprogramm für Kitas und Kindertagespflege" legt eine geschlechter- und vorurteilsbewusste Pädagogik fest: Erzieher*innen sollen Kinder bei der Entwicklung der eigenen Geschlechtsidentität unterstützen und Stereotypen und einseitigen Geschlechterrollen entgegenwirken sowie Methoden und Techniken kennen, wie man Antifeminismus und Sexismus widersprechen kann, um diese vermitteln zu können. Gleiches gilt für Lehrkräfte an Schulen: Qualifikationen in den Kompetenzbereichen Gender und gesellschaftliche Vielfalt werden im Lehrkräftebildungsgesetz zwar erwähnt, doch diese eigentlichen Kernkompetenzen nehmen in den Aus- und Fortbildungen zu oft einen nachrangigen Stellenwert ein. Dieses Missverhältnis wollen wir beheben und mehr Aufmerksamkeit für die Wichtigkeit von geschlechtergerechter Bildung schaffen. Dabei soll der Fokus auf Intersektionalität als Verständnis von Feminismus und der Lebensrealitäten der Kinder und Jugendlichen gelegt werden.
Laut dem Berliner Schulgesetz gehört die "Gleichstellung der Geschlechter" zum Auftrag der Schule. Auch weitere Ideale sind darin festgelegt, etwa dass "alle erziehungs- und bildungsrelevanten Maßnahmen und Strukturen unter Einbeziehung der Geschlechterperspektive und der interkulturellen Perspektive zu entwickeln sind" (§4) und Schüler*innen dazu befähigt werden "die Gleichstellung aller Geschlechter auch über die Anerkennung der Leistungen der Frauen in Geschichte, Wissenschaft, Wirtschaft, Technik, Kultur und Gesellschaft zu erfahren" (§3). Leider entsprechen diese Ideale nicht der gelebten Realität an Berliner Schulen und spiegeln sich auch nur bedingt in den Rahmenlehrplänen wider.
Der Anspruch Berlins, eine multikulturelle, diverse und auf Gleichberechtigung ausgerichtete Stadt zu sein, muss sich auch in den Lehrinhalten der Schulen widerspiegeln und vielfältige Perspektiven abbilden. Die Pflichtlektüren für das Abitur und die Lektüreempfehlungen für die Sekundarstufe I beinhalten allerdings fast ausschließlich männliche weiße Autoren, deren Werke zumeist heterosexuelle Normativität vorleben. In den Vorgaben über die Pflichtlektüre zum Abitur für Berlin und Brandenburg für das Jahr 2021 und 2022 findet sich etwa keine einzige weibliche Autorin und keine nicht-weiße Autor*in. Dadurch wird Schüler*innen suggeriert, dass Frauen, trans* und nicht-binäre und nicht-weiße Autor*innen in der Literaturgeschichte nicht vorkamen und dass bedeutende Literatur nur von weißen Männern geschrieben wird. Dies beeinflusst wiederum Schüler*innen darin, was sie sich zutrauen und welche Perspektiven als relevant wahrgenommen werden.
Wir wollen daher, dass die Kriterien für die Entwicklergruppen zur Auswahl der Pflichtlektüre in den Abiturprüfungen um eine Geschlechterperspektive ergänzt werden und dass für die Sekundarstufe I konkretere Vorgaben gemacht werden, dass auch weibliche und nicht-weiße Autor*innen im Unterricht gelesen werden sollen. Durch Fortbildungen für Lehrkräfte und ein vielfältigeres Angebot im Lehramtsstudium wollen wir die (angehenden) Lehrkräfte ermutigen und befähigen, auch Texte jenseits des traditionellen Kanons im Unterricht zu behandeln und den Schüler*innen so eine breitere Perspektive aufzuzeigen. Problematische Frauen- bzw. Gesellschaftsbilder in der gewählten Lektüre müssen zwingend im Unterricht problematisiert werden. Wir wollen nicht nur die Schullektüre diverser gestalten. Auch in Fächern wie Geschichte und Politik sollen Frauen, trans* und nicht-binären und nicht-weißen Personen endlich sichtbar werden.
Zur Gleichstellung aller Geschlechter gehört auch das vorurteilsfreie Besprechen von Themen wie queerer Sexualität, trans* und Intergeschlechtlichkeit im Biologieunterricht und insbesondere in der Sexualkunde. Der Sexualkundeunterricht muss weg von einem reinen Fokus auf heterosexuelle cis Personen und penetrativen Sex. Wir fordern, dass die gesamte Vielfalt von Sexualität, Geschlecht und Sex behandelt wird, damit alle Schüler*innen bestmöglich informiert sind und aufgeklärte Entscheidungen treffen können.
Welche Interessen gefördert werden und welche Fähigkeiten Jungen und Mädchen in ihrer Bildungsbahn zugetraut werden, kann großen Einfluss auf die Berufswahl haben. In klassischen "Frauenberufen" werden deutlich niedrigere Löhne gezahlt als in klassischen "Männerberufen". Diskriminierung und eine geringere gesellschaftliche Anerkennung für weiblich konnotierte Tätigkeiten, z.B. im Care-Bereich, spielen hier eine bedeutende Rolle. Diese Verdienstungleichheit zwischen den Geschlechtern steigt im Laufe des Erwerbslebens erheblich an und beträgt beim Lebenserwerbseinkommen, dem sogenannten "Gender Lifetime Earnings Gap", knapp 50 Prozent (DIW 2017; DIW 2014). Junge Menschen bei der Berufswahl zu begleiten und dazu zu ermutigen, gängige Geschlechterklischees zu hinterfragen, kann die gesellschaftlichen Vorstellungen von Männer- und Frauenberufen aufbrechen und so zu mehr Geschlechtergerechtigkeit beitragen.
Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik sind Bereiche, in denen Mädchen und Frauen unterrepräsentiert sind – in den Leistungskursen, den Ausbildungen oder Studiengängen, den Professuren oder der Berufswelt. Zwar findet in eigenen Fächern bereits ein Umdenken statt und es studieren beispielsweise deutlich mehr Frauen Mathematik als noch vor 10 Jahren, trotzdem bleiben Professuren, gut bezahlte Jobs oder Entscheidungspositionen männlich besetzt. Um das zu ändern, fordern wir, dass Berufsorientierungsmaßnahmen und MINT-Förderung für Mädchen schon ab der Grundschule regelmäßig angesetzt werden und durch alle weiterführenden Schulen fortgesetzt werden. Das soll nicht nur einmal jährlich an einem besonderen Tag passieren, sondern zum Beispiel durch den Ausbau der WAT-Unterrichts (Wirtschaft, Arbeit, Technik) gesichert werden. Bereits in den Kindertageseinrichtungen sollen Kinder unabhängig vom Geschlecht spielerisch mit Technik und Naturwissenschaft in Berührung kommen. Gezielte Schnupperangebote in außerschulischen Bildungseinrichtungen sowie Initiativen und Vereine, die die spielerische Vermittlung von MINT-Kompetenzen an Mädchen zum Ziel haben, wollen wir stärker unterstützen. Im MINT-Bereich sind wir mit einem extremen Fachkräftemangel konfrontiert, der uns nicht zuletzt bei der Bekämpfung der Klimakrise Steine in den Weg legt. In der digitalen Transformation der Wirtschaft und Gesellschaft brauchen wir mehr Fachkräfte. MINT-Förderung für Mädchen und junge Frauen ist also geschlechtergerecht, nachhaltig sowie wirtschaftlich und ökologisch ein Gewinn für uns alle.
Zu einer geschlechtergerechten Bildung gehört auch die Jungenarbeit. Jungen bekommen in der Schule insgesamt schlechtere Noten und brechen häufiger die Schule ab. Zwar verdienen Männer durchschnittlich mehr Geld als Frauen, allerdings bleiben viele Jungen im Bildungsweg auf der Strecke und rutschen so früh in die Armut. Geschlechterstereotype und ein veraltetes Bild von Männlichkeit schränken auch Jungen dabei ein, ihre Interessen und Fähigkeiten zu entdecken und zu entwickeln. Dafür unterstützen wir Jungenarbeit in der Schule und außerschulische Angebote, die ein anderes Bild von Männlichkeit vermitteln als der starke Mann, der nie weint und nicht um Hilfe bittet. Jungenarbeit können Workshops sein, die sich mit der eigenen Gefühlswelt oder dem Prinzip von Konsens auseinander setzen. Genauso begrüßen wir, dass mehr Männer als Erzieher arbeiten und damit ein fürsorgliches Bild von Männlichkeit vermitteln.
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