26 Thesen zur Wahlanalyse

06.01.12 –

von Tobias Balke

(Stachlige Argumente Nr. 184, Winter 2011, online)

1.
Wir Grünen haben am 18. 9. eine schwere und bittere Niederlage erlitten.
Der Abbruch der rot-grünen Koalitionsverhandlungen am 5. 10. und das nun bevorstehende rot-schwarze Bündnis sind die unmittelbare Folge dieses Wahlausgangs. In den nächsten fünf Jahren wird Berlin noch erheblich schlechter regiert werden als in den zehn Jahre Rot-Rot.
Die Piratenpartei wird 2013 wesentlich mehr Stimmen einsammeln, die sonst überwiegend uns, Linkspartei oder SPD zukämen. Das allein könnte schon reichen, ein linkes, also rot-grün-rotes Bündnis ab 2013 rechnerisch unmöglich zu machen. Ein rot-grün-orangenes (oder rot-grün-rot-orangenes) Bündnis mit einer Partei ohne nennenswerte Parlamentserfahrung und ohne durchgestandene Belastungsprobe wird die SPD kaum abschliessen wollen.
Die Berliner Bundesratsstimmen sind für fünf Jahre neutralisiert und stehen weder zur Vorbe-reitung noch zur Unterstützung eines rot-grünen Bündnisses auf Bundesebene zur Verfügung.
Führende Bundespolitiker der SPD haben sich demonstrativ einer großen Koalition ab 2013 angenähert.

2.
Dies ist um so schmerzlicher, als ein grüner Wahlsieg in Berlin durchaus möglich war.
Bis zu dieser Wahl war ja Berlin eine unserer Hochburgen, mit Bundes- und Europawahlergebnissen sehr deutlich über dem Bundesniveau (Bundestagswahl: 1998 + 1,2 %, 2002 + 2,4 %, 2005 + 5,6 %, 2009 + 6,7 %; Europawahl: 1999 + 6,1 %, 2004 + 10,9 %, 2009 + 11,5 %; Quelle hier und im folgenden: http://www.wahlen-berlin.de/home.asp und http://www.bundeswahlleiter.de/ ).

Das hat jetzt aufgehört, wir landeten bei dieser Wahl sogar noch ca. 1,5 % unter dem Bundes-Umfrageniveau ("Sonntagsfrage": gms 20% (21. 9); infratest dimap 18 % (21. 9.) bzw. 19 % (16. 9.); Forschungsgruppe Wahlen 18 % (23. 9.) bzw. 20 % (9. 9.); Forsa 19 % (21. 9.) bzw. 20 % (14. 9.); Emnid 19 % (18. 9.) und Allensbach 19% (21. 9.) - Links über http://www.wahlrecht.de/umfragen/index.htm ).

Dabei wählte Berlin auch diesmal mit breiter Mehrheit eindeutig links: von den gültigen 1.461.185 Zweitstimmen entfielen nur 23,35 % auf die CDU und nur 5,14 % auf Parteien ein-deutig rechts der CDU (NPD 2,14 %, pro Deutschland 1,22 %, "Die Freiheit" 0,96 %, BIG 0,55 %, Deutsche Konservative 0,16 %, BüSo 0,11%), dagegen 66,49 % auf die Parteien der gemäßigten Linken (SPD 28,29 %, Grüne 17,59 %, Linkspartei 11,71 %, "Piraten" 8,90 %).

Selbst die "Proteststimmen" wurden augenscheinlich überwiegend einer links-verorteten Partei zugewendet. Beides spricht insgesamt doch wohl für die politische Reife und das Verantwortungsbewusstsein der Berliner Wähler_innen .Diese schwere Wahlniederlage haben wir also weitgehend selbst verschuldet. Sie muss als Folge unserer eigenen Fehler gesehen und analysiert werden.

3.
Wir sollten möglichst alle von Bündnis 90/Die Grünen tatsächlich gemachten Fehler finden und offen benennen. Dies soll vor allem ihre Wiederholung vermeiden helfen, besonders vor und bei der Bundestagswahl 2013. Nebenbei kann eine kritische, aufrichtige Selbstbefragung und später die öffentliche Präsentation der Ergebnisse auch der Abwehr unberechtigter Vorwürfe dienen.

4.
Der Versuch, im Wahlkampf um die stärkste Abgeordnetenhausfraktion zu kämpfen, war an sich in Ordnung. Fast alle Umfragen vom August bis Anfang Dezember 2010 (siehe http://www.wahlrecht.de/umfragen/landtage/berlin.htm ) zeigten einen Vorsprung vor der SPD. Bundesweit lässt sich schon länger die Position vertreten, das die Grünen als modernste und am meisten integrationsfähige Kraft der drei linken Parteien eine moderierende Funktion zwischen den beiden sozialdemokratischen Parteien SPD und Linkspartei übernehmen könnte und sollte, die eine in Sachfragen innovativ führende Rolle einschliesst. Auf Berliner Landesebene kam hinzu, dass beide konkurrierenden Parteien der parlamentarischen Linken in zehn Jahren rot-roter Koalition aufreizend wenig geschafft hatten und Besserung nicht in Sicht war. Dieses Ziel - am meisten Stimmen von allen Parteien zu bekommen - war vor einem Jahr durchaus realistisch und seine Erreichung wäre selbstverständlich auch sehr wünschenswert gewesen.

5.
Es war eigentlich auch nicht falsch, als einen besonders wichtigen einzelnen Grund für das rot-rote Koalitionsversagen die Person Klaus Wowereit und die ihn tragenden und von ihm konservierten autoritären Entscheidungsstrukturen in der Berliner SPD zu identifizieren. Wowereits "aggressives Phlegma" (vgl. http://www.sueddeutsche.de/politik/wowereit-laesst-koalitionsverhandlungen-scheitern-wie-der-baer-beim-honigschlecken-1.1155962 ) dürfte in diesem Jahrzehnt hunderte sinnvolle Initiativen aus SPD und Linkspartei abgewürgt haben, so wie die guten Vorschläge und berechtigten Forderungen der Grünen immer wieder vom Senat zurückgewiesen wurden. Wowereit weiss zwar sehr gut, wie mensch Macht erwirbt und behält, aber sehr schlecht, was mensch mit Macht anfangen sollte.

6.
Von daher lag es nahe, eine personelle Alternative zu Wowereit anzubieten, eine echte Auswahl für das Amt des Regierenden Bürgermeisters als gute Möglichkeit aufzuzeigen und Wowereits Auswechselung gegen eine besser geeignete grüne Person als überfällig und durchführbar zu fordern.
Ich halte es für völlig richtig, dies mit einer Frau versucht zu haben. Auch war es zunächst auch kein Fehler, Renate Künast zu nominieren, denn sie war die mit Abstand stärkste Frau, die dafür überhaupt zur Verfügung stand, und es lässt sich gut begründen, dass sie fleissiger und tüchtiger ist als Wowereit.

7.
Nicht die Person, sondern der hochgradig personalisierte Wahlkampf hat uns so tief in der Wähler_innengunst sinken lassen. Für die Verwirklichung grüner Ziele durch unsere Partei schadet jede primär personenzentrierte Wahlwerbung mehr als sie nützt. Selbst die stärksten Grünen können nur eingebettet und getragen von einem wirklich überzeugenden Programm genug Menschen überzeugen. Denn gemessen an dem bedrückenden Missverhältnis zwischen der sehr grossen Reichweite und Dringlichkeit unserer Ziele einerseits und den ziemlich geringen Möglichkeiten, sie im gegenwärtigen politischen Betrieb schnell und umfassend zu erreichen anderseits sind auch die besten Führungs-Grünen im Grunde nur als Notbehelf zu betrachten. Es gehört zu den Basis-Aufgaben, den führenden Grünen immer wieder klar zu machen, dass Grüne Kühnheit und Zuversicht beim Setzen grüner Ziele mit Zurückhaltung und Bescheidenheit, was ihre eigene Person angeht, verbinden sollten.

Personalisierung in hoher Dosis war, ist und bleibt Gift für Grüne.

8.
Der erste schwere Fehler war, Renate Künast wichtige programmatische Aussagen machen zu lassen, bevor wir das Wahlprogramm beschlossen hatten. Wir hätten unbedingt zuerst das Programm verabschieden sollen, und zwar mit dem Mut, die wichtigsten Unterschiede zum Rot-Rot-Versagen in genügend anschaulichen Szenarien zu entfalten und offensiv vorzutragen. Danach erst, mit der gesamten Landesliste, hätten wir deren Nr. 1 aufstellen sollen. Dies hätte nicht ausgeschlossen, dass Renate Künast vorher - am besten auf einer LDK - ihre Bereitschaft zur Kandidatur öffentlich erklärt und Berliner Grüne diese Bereitschaft öffentlich begrüßt hätten.
Aber sie hätte dann unbedingt soviel Disziplin aufbringen müssen, bei allen Fragen nach "ihren" Wahlzielen standhaft darauf zu verweisen, dass die gemeinsamen Wahlziele aller Berliner Grünen auf dem Programmparteitag gemeinsam beschlossen werden.

9.
Es wäre auch dann durchaus möglich gewesen, bereits im November oder Dezember 2010 mit der öffentlichen Mobilisierung zu beginnen. Wir hätten hierzu ein überschaubares Bündel von Programm-Kernforderungen (mit vorläufigen, aber gut ausgearbeiteten Begründungen) beschliessen können. Dafür wäre ein Teil der LDK-Beschlüsse von 2010 als Vorarbeiten recht gut verwendbar gewesen. Mit allen anderen Berliner Grünen hätte sich dann auch Renate Künast in diese Kernforderungen einarbeiten und öffentlich für sie werben können, sobald sie beschlossen worden wären.

10.
Noch schwerer war der Fehler, das Wahlprogramm durch Renate Künasts Vertrauensleute – Andreas Schulz, Peter Siller - redigieren zu lassen. Der Leitantrags-Entwurf las sich "geglättet", vage und fade wie ein überlanger Werbeprospekt, umkurvte meistens konkrete Angaben und Festlegungen, besonders da, wo sie finanzielle Zusagen erfordert hätten, warf in vorauseilender Resignation wesentliche Forderungen (wie die nach dem Politischen Bezirksamt) stillschweigend über Bord und schien auf zentralen Arbeitsgebieten weitreichende Konzessionen an potentielle Koalitionspartner_innen vorzubereiten.
Dies konnte geschehen, weil Anfang 2010 der LA (mit knapper Mehrheit) dem LaVo die Auswahl der Programm-Schreibgruppe zugestanden hatte, anstatt ihre Wahl durch die LDK zu beschliessen. Auch z.T. sehr intensive Anstrengungen besonders aus den LAGen konnten diesem Programmentwurf (trotz wertvoller Teilerfolge) dann nicht mehr genug Griffigkeit und Trennschärfe implantieren. Beim Ausbremsen und Weichspülen half die Antragskommission des LaVo.11. Schwere Folgen hatte auch das – nach den Wahlkampagnen von 2005, 2006 und 2009 alles andere als überraschende - Versagen der "Goldenen Hirschen" beim Plakatentwerfen (siehe http://gruene-berlin.de/wahl2011/kampagne ): die Themenplakate wirkten bieder-dümmlich und optisch unattraktiv. Statt dem liebenswürdigen und gelegentlich witzigen Dilettantismus früherer Berliner Wahlplakate präsentierten sie den ausgeleierten und ausgebrannten Professionalismus der Agentur und die Phantasielosigkeit der Auftraggeberin.

Der Kern unserer Wähler_innen kann und will intellektuell und ästhetisch ernst genommen werden. Renate Künast und ihrer Umgebung fehlte anscheinend das dafür nötige Gespür.

Die schlechte Plakatqualität ist ein wichtiger Grund (und der einzig gute..) dafür, dass Kreisverbände weitaus mehr Kopfplakate als Themenplakate bestellt und gehängt haben (z.B. Charlottenburg-Wilmersdorf: 4100 Kopfplakate, nur 800 Themenplakate).

12.
Wer die mediale Verkürzung auf "Renate statt Wowi", die Omnipräsenz grüner Kopfplakate (noch einmal verstärkt durch die Renate-Großformate), die traurige Nebenrolle der Themenplakate registrierte und sich nicht die Mühe machte, die umfangreichen Wahlprogramme intensiv miteinander zu vergleichen, kam in die Gefahr, den Kampfruf "Da müssen wir ran!" als "Wir müssen an den Trog!" misszuverstehen.

Die grosse Mehrheit der Piratenpartei-Stimmen kamen von Protest-Wähler_innen (mein Eindruck im Strassenwahlkampf: ungefähr vier Fünftel). Protestiert wurde anscheinend nicht nur gegen die Landes-Regierungsparteien Rot-Rot und die Bundes-Regierungsparteien Schwarz-Gelb, sondern auch gegen die grüne Regierungsanwärter_innenpartei und dies vor allem wegen der missratenen Wahlwerbung, die grüne Zielsetzungen und Prioritäten eher verwischte als kenntlich machte.

13.
Wäre Renate Künast Erste eines ganzen Regierungsteams gewesen, hätten wir mit ihr auch grüne Senator_innen und Staatssekretär_innen präsentiert, dann hätten diese Spitzenwahlkämpfer_innen leicht einzelne Defizite von Renate Künast ausgleichen und wettmachen können. Sie hätten sich jeweils auf ein Themenfeld spezialisieren und dort die Konkurrenz herausfordern und in die Enge treiben können. Sie hätten ausserdem für den – dann in der Endphase tatsächlich eingetretenen – Notfall (faktischer Rückzug von Renate Künast) immerhin noch eine ausgezeichnete personale Auffang-Gruppe gebildet.
Ob Renate Künast und die in ihrem Schatten Mächtigen sich nicht von dafür direkt Legitimierten in ihre Wahlkampagne hineinreden lassen wollten oder die vor der Wahl notwendigerweise flügelübergreifende Zusammensetzung eines solchen Regierungsteams scheuten, wissen sie selbst am besten. Nach ihrem übrigen Verhalten zu urteilen, waren vermutlich beide Motive wirksam.

14.
Renate Künast war durch ihre (politisch logische und menschlich verständliche) Ansage, sie werde entweder Regierende Bürgermeisterin oder in den Bundestag zurückkehren, in unglücklicher Weise gehandikapt.
Mit den gekränkten lokalpatriotischen Eitelkeiten allein hätten wir vermutlich noch einigermassen fertig werden können, geholfen hätte der Hinweis, als Oppositions-Fraktionsvorsitzende könne sie ja im Bundestag deutlich mehr als im Abgeordnetenhaus für das Land Berlin tun und bleibe dort die prominenteste Abgeordnete mit Berliner Wahlkreis.
Aber das Beharren auf der Alles-oder-nichts-Spitzenkandidatur in Kombination mit der Wechselforderung schien ab Juni – stabiler und wachsender Umfragevorsprung der SPD, dadurch wachsende Unwahrscheinlichkeit von Grün-Rot – die Grünen automatisch in Richtung einer grün-schwarzen Koalition zu treiben.

15.
Es fehlte eine unsere Wähler_innen und uns selbst überzeugende Wahlstrategie. Auch bei wohlwollender Betrachtung sah es einfach nicht danach aus, dass Grüne ihre Machtperspektiven realistisch durchdenken und zielbewusst ansteuern würden. Es gab, als wir in den Umfragen noch vor der SPD oder Kopf an Kopf lagen, keine Antwort auf die Frage, warum denn die SPD sich lieber in eine grün-rote Koalition ohne Wowereit als in eine rot-schwarze Koalition mit Wowereit begeben solle.
Es gab danach auch keine Antwort auf die Frage, warum denn die CDU sich lieber in eine grün-schwarze als in eine rot-schwarze Koalition begeben solle. Renate Künasts sehr späte Absage an Schwarz-Grün begrenzte einen Schaden, den sie und ihre Ratgeber_innen selbst angerichtet hatten.

Die Option auf ein grün-schwarzes Bündnis mit der CDU war im Prinzip als Druckmittel gegenüber der Wowereit-SPD legitim und wäre im Notfall eventuell sogar realisierbar gewesen (Anzeichen dafür liefert – sehr bedingt und indirekt - inzwischen auch die erstaunliche "Beweglichkeit" der Henkel-CDU gegenüber der SPD). Für Grüne wäre eine Koalition mit der CDU aber nur aus einer Position der Stärke heraus sinnvoll führbar. Stärke wächst aus innerer Haltung. Die hätten Grüne rechtzeitig durch programmatische Klarstellungen zeigen können, die als Mindestanforderungen an alle möglichen Koalitionspartner_innen zu formulieren gewesen wären. Dies unterblieb, Konditionen für eine etwaige grün-schwarze Option wurden nicht ernsthaft diskutiert und die routiniert beteuerten "grösseren Schnittmengen" mit dem SPD-Programm nicht eingehend spezifiziert. Als unbestimmte Drohung mobilisierte Grün-Schwarz SPD-Wähler_innen und schreckte grüne Wähler_innen ab. Diese Lage, ihre Chancen und ihre Gefahren haben Grüne nicht offen und nicht breit dirkutiert.
Das Publikum sah sich monatelang alleingelassen mit einer grünen Diskursverweigerung, deren unausgesprochene Botschaft "lasst unsere Chefin nur machen, das ist alles Verhandlungssache" im Grunde einen Blankocheck forderte. Es ist kein Wunder, dass viele zunächst grünnahe Berliner_innen ihn nicht ausstellen wollten.

16.
Ein Vergleich der Umfrageergebnisse für das Bundesgebiet und Berlin ("Sonntagsfrage"; Links über http://www.wahlrecht.de/umfragen/index.htm ) ermöglicht, die wahlentscheidende Enttäuschung unserer Anhänger_innen relativ genau zu datieren: im Juni 2011 werden für Berlin zum (vorläufig?) letzten Mal Werte deutlich über dem Bundestrend gemessen (infratest dimap, 24./17. 6., 6 %) und zum ersten Mal die seitdem und bis jetzt anhaltenden Zahlen um 1% (oder kaum darüber). Ein nicht geringer Teil unseres Wähler_innenpotentials hat sich offenbar zu dieser Zeit von uns abgewendet, ohne eine andere Partei vorzuziehen. Die "heisse" Wahlkampfphase hat diese Distanzierung nicht mehr rückgängig machen können, sondern viele Abgewanderte zum Entschluss gebracht, statt uns die Piraten oder andere Nicht-Grüne zu wählen.

17.
Persönliche Verantwortlichkeiten können klar benannt werden:
Renate Künast hatte ab November 2010 weitgehend freie Hand. Was sie nicht selbst entschieden hat, das hätte sie doch leicht abändern lassen können. Soweit Fehler gemacht wurden, hat sie das zuerst und mit weitem Abstand zu verantworten.
Nächst ihr sind diejenigen am meisten verantwortlich, die Renate Künast zur quasi-präsidialen Spitzenkandidatur, zur Auswahl und Leitung des Wahlkampfteams und zur de-facto-Redaktion des Wahlprogrammentwurfs verholfen haben.
Das sind die beiden früheren Landesvorsitzenden Irma Franke-Dressler und Stefan Gelbhaar und die Fraktionsvorsitzenden Ramona Pop und Volker Ratzmann. Sie hatten während des ganzen Wahlkampfs die relativ besten Gelegenheiten, Renate Künast zu beraten und Forderungen an sie zu richten. Wichtige einzelne Entscheidungen sind anscheinend in sehr kleinem Kreis ohne Protokollierung getroffen worden. Wer aus dieser Personengruppe wann und wie aktiv wurde, wer wann und wie informiert wurde, könnten wohl im vollem Umfang und ganz genau nur diese fünf Menschen selbst berichten. Bis sie den Anteil jeder einzelnen Person an jeder einzelnen Entscheidung offengelegt haben, dürfte einige Zeit vergehen.

18.
Aber die grossen Linien zeichnen sich auch jetzt schon ab: die führenden Personen des rechten Flügels haben – soweit bis jetzt bekannt, weitgehend einvernehmlich – die wesentlichen Entscheidungen für sich und die Leute, die sie für ihre Zwecke verwendbar fanden, zu monopolisieren versucht und das ist ihnen zum Unglück der ganzen Partei auch weitgehend gelungen.
Die Führung des rechten Flügels verfügte auf den entscheidenden LDKen (7. 11. 2010, 5. 3., 16./17. 4. 2011) meistens über die Mehrheiten an LDK-Delegierten. Sie nutzte dies, um von ihr vollendete Tatsachen abnicken zu lassen und auch, um linke Kandidierende von aussichtsreichen Plätzen der Landesliste fernzuhalten – nur fünf sind auf diesem Weg ins Abgeordnetenhaus gelangt. Eine überwältigende Zahl von Mitgliedern liess sich zu stehenden Ovationen hinreissen - wie vorher am 5. 11. und dann auch auf der LMV vom 9. 4. (die später abgebrochen wurde, nachdem sich ab Listenplatz 15 zeigte, dass rechte Mitglieder früher weggingen als linke).

19.
Das Versagen der rechten Führungsgruppe konnte nur deshalb des gesamten Landesverband ins Wahl-Desaster führen, weil eine allzu vertrauensselige und harmoniebedürftige Basis diese Personen so lange hat gewähren lassen. Renate Künasts an sich gesundes Selbstbewußtsein wurde von naiver Idealisierung, Denkfaulheit und Konfliktscheu so sehr zur Selbstüberschätzung aufgeschaukelt, wie es sich unsere Partei kein zweites Mal leisten sollte. Grüne müssen einsehen: auch erwiesenermassen grosse Regierungsfähigkeiten und die Eignung zum laufenden Oppositionsbetrieb garantieren noch keinen strategischen Weitblick und ebenso wenig die Fähigkeit, gute Programmarbeit mal eben aus dem Ärmel zu schütteln.

20.
Es lohnt, in die Wahlanalyse auch eine Nachbetrachtung der Sondierungs- und Koalitionsverhandlungen einzubeziehen: nicht nur, weil erst deren Scheitern die grüne Wahlniederlage in voller Schärfe wirksam und sichtbar gemacht hat, sondern auch, weil sie wichtige Aufschlüsse über verkannte und versäumte Chancen liefern kann.

21.
Der Streit um die Verlängerung der A 100 ist Anlass des Koalitionsverhandlungsabbruchs und Symptom für dessen Ursachen. Es gab und gibt von der Sache her ausgezeichnete Gründe, sich gegen die A-100-Verlängerung zu wenden. Sie dient dem Autobahndurchbruch durch Treptow, Friedrichshain und Prenzlauer Berg bis in den Wedding und damit dem Schliessen eines kompletten Autobahnrings um die Innenstadt. Das wäre für den Berliner Raum ein schwerer und lang anhaltender Rückschlag für die Verkehrswende - speziell die Verlagerung des Verkehrs von der Strasse auf die Schiene – und ebenso für die Bewohnbarkeit der Berliner Innenstadt, ihre Befreiung von Lärm, Feinstaub und anderen gesundheitsschädlichen Emissionen. Wir haben diese Ablehnung als schon lange gefestigte Position ins Wahlprogramm übernommen, mehrere Direktkandidierende haben darauf ihren Schwerpunkt gelegt und unser LA hat dies am 25. August im 10-Punkte-Katalog bekräftigt. Nachteilig war nur, dass dieses grünen "Nein!" in den Medien isoliert herausragte. Wäre es zur rechten Zeit als logische Konsequenz unserer stadtentwickelnden, umweltschützenden und verkehrswendenden Grundsätze innerhalb einer gut komponierten, reichhaltigen Gruppe grüner Kernforderungen präsentiert worden, wäre es in ganz Berlin gut vermittelbar gewesen.
Der LDK-Beschluss vom 30. 9. war dann auch machtpolitisch notwendig: hätten wir uns in dieser politisch stark aufgeladenen Frage von Wowereit & Co. wie von ihm angekündigt einschüchtern und einknicken lassen, dann wäre das wohl kaum das Ende von Wowereits rein machtpolitisch motivierten Zumutungen gewesen, sondern im Gegenteil der Auftakt zu immer weiteren Demütigungen. Wowereit hätte in den nächsten fünf Jahren immer so weiter gemacht und uns nach und nach so klein gekriegt wie die Berliner Linkspartei.

22.
Wowereit kann in der Berliner SPD sehr vieles durchsetzen, aber nicht alles. Die SPD-Linke hat augenscheinlich Wowereit ganz erhebliche Zugeständnisse abgerungen, die angesichts der Umstände bemerkenswert sind. Das gilt besonders für die Zusagen vom 23. 9., in einer rot-grünen Koalition gemeinsam beim Bund die Umwidmung der 420 A-100-Verlängerungs-Millionen für andere Infrastrukturmaßnahmen zu betreiben, und vom 4. 10., damit auch noch bis zur nächsten Bundesregierung und dem Jahr 2014 Geduld zu haben.
Dies allein zeigt schon, dass die angebliche Alleinherrschaft von Wowereit plus Anhang deutliche Grenzen hat. Dass die SPD ihr Übergewicht (an Mandaten und Verhandlungsoptionen) einsetzte, um die A-100-Verlängerung auf Biegen oder Brechen, selbst um den Preis einer Großen Koalition durchzusetzen, war alles andere als selbstverständlich. Eine sehr grosse Minderheit der SPD-Delegierten (108, bei 113 Ja-Stimmen) hatte am 26. 6. 2010 dem massiven Wowereit-Druck standgehalten, als nur die Sache selbst, nicht der Verzicht auf Rot-Grün zur Abstimmung stand.
Hätte eine geschickte und engagierte grüne Verhandlungsführung dem linken SPD-Flügel die Konfrontation etwas erleichtert, wäre deren Sieg über Klaus Wowereit und Michael Müller gut möglich gewesen. Dazu hätten die Grünen beim letzten Sondierungsgespräch jede Zweideutigkeit (wie "qualifizierter Abschluss") in der schriftlichen Fixierung vermeiden und die nach wie vor umstrittene Frage, was nach einer immerhin denkbaren Umwidmungs-Verweigerung der nächsten Bundesregierung zur A-100-Verlängerung im Koalitionsvertrag stehen sollte, ans Ende der Koalitionsverhandlungen verschieben sollen.
Bis zu derem Ende hätten sich die grossen Gemeinsamkeiten in Sachfragen nach und nach in einer Fülle von Einzelvereinbarungen so entfalten können, dass die enormen Vorzüge einer rot-grünen Koalition einer grossen Mehrheit der SPD-Basis und der SPD-Wähler_innen unmittelbar eingeleucht hätte und auch Wowereit & Co. am Ende einen geeigneten Kompromiss als krönenden Abschluss eines Koalitionsvertrags nicht mehr hätten ablehnen können.
Hier stand anscheinend der grünen Verhandlungsgruppe feindbildlich überzogene Vorstellungen über Wowereits Übermacht und die Ohnmacht seines innersozialdemokratischen Korrektivs als self fulfillig prophecy im Wege und vielleicht noch mehr ihre Ignoranz gegenüber rot-grün-roten Perspektiven.

23.
Rot-Grün hätte sich nämlich sehr wohl trotz des knappen Zwei-Mandate-Vorsprungs durchführen lassen. Rot-Rot hat sich fünf Jahre lang mit ebenfalls sehr knapper Mehrheit an der Macht gehalten - es geht also durchaus. Das Hauptproblem - bei geheimer Wahl der/des Ministerpräsidentin/en bzw. der/dem Regierenden Bürgermeister_in reicht unter Umständen ein_e einzige Heckenschütz_in, um rot-grün-haltige Koalitionen in der Wiege zu erwürgen, wie 2005 in Schleswig-Holstein und 2008 in Hessen - wäre an sich leicht auszuräumen gewesen. Es hätten nur SPD und Grüne mit der Linkspartei über ein Sicherheitsnetz - Mitwahl Wowereits zum Regierenden Bürgermeister durch die Linkspartei-MdAs - sprechen müssen. Rot-Grün statt Rot-Schwarz liegt von den zu erwartenden Sachentscheidungen und dem Bundesratsverhalten her eindeutig im Interesse der Linkspartei; hätte sie darüber hinaus für ihre einmalige (bzw. bei einer Ablösung Wowereits während der Legislaturperiode: zweimalige) Unterstützung eine massvolle Gegenleistung verlangt, wäre das nicht so schlimm gewesen.

24.
Zusammenfassend ist zu sagen, dass wir in diesem Wahlkampf weit unter unseren Möglichkeiten geblieben sind, weil wir die grossen Qualitäten der uns potentiell nahestehender Mit-Berliner_innen, ihre politische Bildung, ihre Bereitschaft zum Engagement, ihre Vielfalt und ihre Phantasie sträflich vernachlässigt und unsere eigenen Hauptstärken selbst teil-gelähmt haben.

25.
Es ist kein Zufall, das dies grade einer rechten Führung passierte. Ihrer autoritären Neigung zum "Durchregieren" folgend, entstellte sie das grüne Gesicht zum Zerrbild ihrer eigenen Machtversessenheit. Sie verfehlte auf diese Weise neben ihren eigenen Machtträumen auch und vor allem die gesamtgrünen Ziele.

26.
Eine Einigung auf Grün-Rot wäre nicht ausgeschlossen gewesen und Rot-Grün hätte sich produktiv gestalten lassen, wenn die Grenzen Wowereitscher Herrschaft über die Berliner SPD rechtzeitig erkannt und sinnvoll genutzt worden wären.

Die Grünen hätten – am besten während ihres Umfrage-Stimmenvorsprungs – auf die SPD und speziell ihren linken Flügel zugehen und ihr eine Koalition neuen Typs anbieten können – mit nicht-hegemonialer, partnerschaftlich geteilter Führung, etwa durch eine rotierende Doppelspitze statt einseitiger Richtlinienkompetenz. Mit Blick auf weitere wünschenswerte Verfassungsänderungen und die Bundestagswahlen 2013 wäre dabei auch die Einbeziehung der Linkspartei sinnvoll gewesen.

Aber dafür hätten wir gute Vorbereitungen gebraucht und nicht-hegemoniale, partnerschaftlich orientierte rechte Führungs-Grüne, die zur intelligenten und vorausschauenden Integration aller grünen Personen und Ziele und zu unvoreingenommenen Gesprächen über alle Koalitionsoptionen bereit und in der Lage gewesen wären, statt Alleinherrschaft durch Ausgrenzung zu betreiben.

15. November 2011