Aus Fehlern lernen - notwendige Debatten führen - Oppositionsführerschaft herstellen

19.12.11 –

von Ramona Pop,
Fraktionsvorsitzende Bündnis 90/Die Grünen im Abgeordnetenhaus des Landes Berlin

(Stachlige Argumente Winter 2011, Nr. 184, Seite 21ff.)

Am 18. September haben mehr Menschen denn je Bündnis90/ Die Grünen in Berlin gewählt. Obwohl wir unser bestes Ergebnis eingefahren haben, konnten wir unsere Wahlziele nicht erreichen und müssen zum dritten Mal in Folge erleben, dass eine grüne Regierungsbeteiligung an der SPD scheitert. Diese doppelte Enttäuschung spüren wir alle. Wir haben uns voller Motivation und Power in diesen Wahlkampf begeben, jeder Kreisverband, alle KandidatInnen haben gekämpft wie noch nie. Soviel grüne Präsenz war noch nie, aber auch soviel Zuspruch in der Stadt für uns war noch nie. Die Arbeit von Partei und Fraktion in den letzten Jahren wurde seit 2008 regelmäßig und stabil mit Umfragewerten über 20 Prozent honoriert. Wie konnte es vor diesem Hintergrund dazu kommen, dass wir seit Jahresanfang immer stärker zurückfielen? Dass wir nicht einmal die 20 Prozent mehr erreicht haben, die wir jahrelang in Umfragen hatten? Dass die rot-grün Stimmung in der Stadt nicht dazu ausreichte, Wowereit zu Rot-Grün zu tragen?

Diese Fragen stellen nicht nur wir uns. Auch unsere WählerInnen haben sich starke Grüne in der Stadt und im Senat gewünscht. 250.000 Menschen haben uns trotz eines sichtbar verunglückten Wahlkampfes ihr Vertrauen ausgesprochen, haben Erwartungen in uns gesetzt, dass wir mit unseren Ideen und Konzepten die Stadt voranbringen. Diese Menschen haben unserem Versprechen einer neuen politischen Kultur vertraut, die aus den hergebrachten grünen Nischen aufbricht und den Dialog mit allen in der Stadt sucht. Unsere Wählerinnen und Wähler sind ebenfalls niedergedrückt und fragen sich, warum jetzt Rot-Schwarz ein solches Comeback erleben muss.

Wagnis Wahlkampf auf Augenhöhe

Für uns alle war dieser Wahlkampf Neuland, ein absolutes Wagnis und wir haben Fehler gemacht und manches falsch eingeschätzt, oder zu spät oder falsch entschieden. Dies zu analysieren, um für die Zukunft zu lernen, ist unerlässlich.

Es war vermutlich der längste Wahlkampf, den wir alle erlebt haben. Denn er fing Anfang 2010 bereits an. Vor dem Hintergrund unserer seit Jahren stabil hohen und immer noch ansteigender Umfragen und dem Druck, dem bräsigen Wowereit eine grüne Idee entgegenzusetzen, entstand die Idee einer grünen Kandidatur. Als Christian Ströbele bereits Anfang 2010 nach der Kandidatur Renate Künasts für das Amt der Regierenden Bürgermeisterin rief, konnten wir alle nicht einschätzen, was auf uns zukommt.

Denn im Rückblick war unsere Entscheidung am 5. November 2010 für einen extrem personalisierten Wahlkampf falsch, dessen ganzes Wohl und Wehe an der Spitzenkandidatin hing. Und sie umgekehrt allein dort vorne stand. Denn der notwendige Unterbau fehlte, strukturell und strategisch. Eine Wahlkampfkommission, die den Wahlkampf auf breitere Füße hätte stellen können, mehr Erfahrung und Stimmen aus der Partei hätte einbringen können, gab es nicht. Wir haben unsere Kräfte in diesem Wahlkampf nicht gebündelt, sondern versprengt. Auch ich werfe mir vor, nicht richtig eingeschätzt zu haben, was diese „Kampfansage“ an die SPD bedeutete, die wir mit unserem Anspruch auf Platz 1 formuliert haben. Wir haben unterschätzt, welche Verankerung die SPD in der Stadt hat, wir haben Wowereit und seine Beliebtheit unterschätzt und übersehen, dass der grüne Aufwind nicht unbedingt von den Medien getragen wurde.

Trotz eines guten Programms haben wir es nicht vermocht, klare grüne Projekte für Berlin zu formulieren. Spätestens nach dem Abrutschen in den Umfragen hätte es der Projekte bedurft, um die schlichte Frage zu beantworten: Was wird anders, wenn Grün regiert? Das Lebensgefühl in weiten Teilen der Stadt, für eine andere politische Kultur der Offenheit und Teilhabe zu stehen, gegen eine verkrustete und ideenlose SPD, hat uns weit getragen. Dennoch haben wir es nicht vermocht, zentrale grüne Projekte zu profilieren, für die wir stehen und was mit uns und nur mit uns anders wird. Den erstarkenden Piraten haben wir nichts entgegengesetzt, unsere Plakate kamen harmlos daher. Wir wollten die ganze Breite der Themen abdecken und spürten in diesem Wahlkampf sehr stark den Spagat einer „Volkspartei im Kleinen“. Obwohl ab dem Frühjahr die 5-er Runde aus Landesvorsitzenden, Fraktionsvorsitzenden und Spitzenkandidatin die Fäden in der Hand hielt, gelang uns eine inhaltliche Zuspitzung erst im Frühsommer. Bis dahin hatte die SPD die Stadt mit einem inhaltsleeren, gefühligen Wahlkampf eingelullt und uns hinter sich gelassen.

Mit dem Abrutschen in den Umfragen wurde das Dilemma zwischen unserer „Kampfansage“ an die SPD und unserer Koalitionspräferenz für die SPD immer deutlicher. Daraus müssen wir für die Zukunft lernen. Wie um Platz 1 kämpfen, ohne durch „Kampfansagen“ zu spalten? Also ein Wettbewerb um die besten Ideen und Köpfe für die Stadt, statt eines Konflikts zwischen Grün und Rot. Grün-Rot schien klar, solange wir vorne lagen. Aber andersrum? Nicht zuletzt dazu hätte man die drängender werdende Koalitionsfrage politisch beantworten und von der Personalisierung lösen müssen. Dieser Wahlkampf war tatsächlich kein Beispiel für eine erfolgreiche Politik der Eigenständigkeit.

Zurück auf Los oder Blick nach vorne?

Manche von uns fragen sich, ob wir alles falsch gemacht haben. Meines Erachtens sind wir aber einen großen Schritt weiter, obwohl wir hinter unseren Wünschen und Erwartungen zurückgeblieben sind. Denn die unglaubliche Härte im Wahlkampf und bei den Sondierungen danach hat uns gezeigt, welch ernsthafte Bedrohung wir für die SPD geworden sind. Wir haben in diesem Wahlkampf gesehen, welche Möglichkeiten und Perspektiven wir in Berlin haben. Darauf können wir setzen, darauf müssen wir die nächsten Jahre aufbauen.

Wir haben im Wahlkampf eine Politik für die ganze Stadt versprochen. 250.000 Menschen sind diesem Versprechen trotz unseres verunglückten Wahlkampfs gefolgt. Sie hatten gute Gründe, uns zu wählen. Gute Gründe, die sie in unserer Programmatik und in unserer Arbeit der letzten Jahre gefunden haben. Trotz aller Enttäuschung und Niedergeschlagenheit können wir daher nicht den Schluss ziehen, dass vom Programm bis zum Personal alles falsch war.

Richtig ist, dass wir über den künftigen Kurs der Partei diskutieren müssen. Denn was in der Fraktion als Streit um Posten und Proporz an der Spitze daherkommt, ist in Wirklichkeit ein Streit über den zukünftigen Kurs der Partei. Trägt uns die Idee der Eigenständigkeit auch in Zukunft - trotz der handwerklichen und strategischen Fehler im Wahlkampf? Stehen wir weiterhin zu dem Versprechen, dass wir Konzepte für alle Politikbereiche von Bildung, über Umwelt zu Finanzen profilieren wollen, um dialogfähig mit allen, von Migrantenverbänden bis zur Wirtschaft, zu sein? Oder wollen wir uns thematisch zusammenschnurren lassen auf wenige Themen, die uns zum ewigen Juniorpartner machen?

Es gibt diejenigen, die unsere Politik der Eigenständigkeit der letzten Jahre, die uns immerhin einen dauerhaften Aufschwung beschert hat, jetzt kritisieren. Im Tagesspiegel habe ich dieses Ansinnen überspitzt kommentiert: „Der Schluss kann aus meiner Sicht nicht im Rückzug bestehen: zurück zu zwölf Prozent, zur Alternativen Liste der 80er Jahre, die außerhalb ihres engeren Umkreises nur Feindesland sah und ein ungeklärtes Verhältnis zur Gewaltfrage, zu staatlichen Institutionen und zur Wirtschaft mit sich herumschleppte."

Keineswegs wollte ich damit geschichtsvergessen die AL auf diese wenigen Fragen reduzieren. Doch was in den 80ern seine Berechtigung hatte, Kritik an verkrusteten Institutionen, wie der Wirtschaft, sehen wir heute differenzierter. Denn die Institutionen haben sich verändert und wir haben maßgeblichen Anteil daran, dass sie offener, moderner und ökologischer geworden sind. Viele dieser gesellschaftlichen Weiterentwicklungen sind unser Verdienst. Nicht umsonst haben wir zu unserem 30. Geburtstag gesagt: „Wir haben uns verändert, aber WIR haben auch die Stadt verändert.“ Deswegen stehen wir als linke Partei heute da, wo wir stehen: In der Mitte der Gesellschaft.

Mit dem Green New Deal hängen wir keinesfalls am „Rockzipfel der IHK“, sondern erhöhen den Modernisierungsdruck für die deutsche Industrie. Stichwort: Green Economy. Wie sollen die ökologische industrielle Revolution und die Energiewende gelingen, wenn nicht Unternehmen die zukunftsfähigen Produkte (Elektroauto, intelligente Netze etc.) entwickeln und produzieren? Dazu bedarf es klarer politischer Ziele und eines klaren ordnungspolitischen Rahmens. Darauf baut der Green New Deal.

Und dass uns die leidige Gewaltfrage wieder beschäftigt, hätte so mancher nicht gedacht. Was tun wir, wenn wie im Fall der Räumung der Liebigstraße, nachdem allen Verhandlungen gescheitert sind, der Eigentümer zwar ein Immobilienhai ist, dennoch einen gültigen Rechtstitel hat und der Gerichtsvollzieher die Polizei zur Unterstützung holt? Und das Haus geräumt werden muss? Hätte ein rot-grüner Senat dies verweigert? Wohl kaum. Und dass die Berliner Polizei nicht mehr die prügelnde Polizei der 70er und 80er Jahre ist, sondern sich zunehmend als eine moderne und bürgernahe Polizei versteht, die auf Deeskalation setzt wie am 1. Mai – ist das nicht für alle sichtbar? Also, werden wir Rechtsstaat und seine Institutionen nicht nur akzeptieren, sondern auch schützen?

Das wir diese Fragen vor dem Wahlkampf offensichtlich unzureichend geklärt haben, macht uns allen jetzt das Leben schwer. Die anstehende Diskussion wird nicht einfach und vielleicht auch schmerzhaft. Ob wir sie als notwendige und gemeinsame Weiterentwicklung verstehen, das wird über unsere Chancen bei den nächsten Wahlen im Bund und in Berlin entscheiden. Nun gilt es nach dem verpatzen Neustart der Fraktion, Vertrauen zurückzugewinnen und uns die Oppositionsführerschaft zu erobern.