Die Arbeit beginnt jetzt!

19.12.11 –

von Bettina Jarasch und Daniel Wesener,
Landesvorsitzende Bündnis 90/Die Grünen Berlin

(Stachlige Argumente Winter 2011, Nr. 184, Seite 14 f.)

Wir Grünen bieten der Stadt gerade ein trauriges Bild. Und das nach einem Wahlkampf, in den wir mit so vielen Hoffnungen und Erwartungen wie nie zuvor gestartet sind, und der uns alle unglaublich viel Kraft gekostet hat. Die Enttäuschung, der Frust macht sich Luft. Konflikte und Versäumnisse, die vom Wahlkampf überdeckt wurden, treten umso deutlicher zutage. Das ist alles nicht überraschend. Für unseren Landesverband stellt sich aber desto drängender die Aufgabe, eine gemeinsame Grundlage zu schaffen, auf der sich unsere Partei neu aufstellen kann; eine Grundlage, die uns die nächsten Jahre und auch in den nächsten Wahlkämpfen trägt.

Als Landesvorsitzende sind wir überzeugt davon, dass eine solche Grundlage – ein neuer Grundkonsens über unseren Oppositionskurs als grüne Großstadtpartei – nur dann entstehen kann, wenn wir die hinter uns liegenden Monate sehr genau auswerten, ohne Angst davor, dass diese kritische Analyse auch zahlreiche Fehler zutage fördert, die wir uns selbst zuzuschreiben haben.

„Wir“ sind zum einen wir alle, denn wir stellen fest: Schuldzuweisungen an einzelne Personen verdecken mehr, als sie erklären. Die Fehler, die wir in diesem Wahlkampf gemacht haben – Entscheidungen, die wir getroffen oder auch versäumt haben – weisen zum großen Teil auf uns selbst und die Aufstellung unseres Landesverbandes zurück. Daran zu arbeiten, ist die große Aufgabe der nächsten Monate und Jahre. Wir müssen die politischen, organisatorischen und konzeptionellen Voraussetzungen schaffen, die uns in diesem Wahlkampf gefehlt haben.

Zugleich tragen einige von uns aufgrund ihrer Ämter und Funktionen natürlich eine größere Verantwortung als andere. Wir als Landesvorsitzende wissen mittlerweile sehr genau, wo auch wir Fehler gemacht haben. Der Landesvorstand hat fünf Thesen zur Wahlkampf-Auswertung verabschiedet. Die möchten wir hier vorstellen und zugleich benennen, wo wir unsere persönliche Verantwortung oder auch Versäumnisse sehen und woran wir aus unserer Sicht arbeiten müssen:

1. Wir hatten keine Gesamtstrategie, die berücksichtigt, dass ein Wahlkampf auf der Strecke gewonnen werden muss und eine bestimmte Dynamik hat. Eine fundierte frühzeitige Analyse der Ausgangslage und der WählerInnenpotentiale hat nicht stattgefunden. Wir hatten zu wenig Wissen darüber, wer eigentlich die bis zu 30 Prozent WählerInnen sein könnten, die uns in Umfragen zustimmten. Wir konnten auf externe Faktoren und Umstände nicht adäquat reagieren und hatten auch nicht rechtzeitig einen Plan B parat, z.B. als die Umfragewerte immer weiter absackten und die Koalitionsfrage immer mehr zur Belastung wurde.

2. Wir hatten keine Dramaturgie dafür, wie wir unsere Spitzenkandidatin mit unseren Themen im Wahlkampf verbinden können; sie blieb deshalb die „Dame ohne Unterleib“. Zudem waren viele unserer Konzepte nicht konkret und zugespitzt genug. Deshalb war es an den Ständen trotz 230 Seiten Wahlprogramm bis zuletzt schwer, in wenigen Worten zu erklären, was Grüne anders machen würden und wofür wir bzw. Renate eigentlich stehen.

Wir brauchen ein Leitbild für grüne Politik für Berlin, das die nächsten Jahre trägt, und benötigen dafür einen strukturierten Debattenprozess, der echte oder vermeintliche ideologische Widersprüche angeht, die Diskussionskultur stärkt, innovative politische Konzepte hervorbringt und neue Themen für Grüne erschließt.

3. Jeder Wahlkampf braucht ein strategisches Zentrum.
Wir haben nicht geklärt, welche Entscheidungen wir abgeben und welche wir in welchen Gremien selbst treffen. Wir haben Renate viel überlassen, uns dadurch aber auch ein Stück weit selbst entlastet. Die Fünfer-Runde aus Spitzenkandidatin, Fraktions- und Landesvorsitzenden hat sich zu spät als Führungsgruppe zusammen gefunden und ihre Position innerhalb der vorhandenen Strukturen blieb undeutlich. Die Basis wusste häufig nicht, wer eigentlich weshalb bestimmte Entscheidungen getroffen hat. Da die Kommunikationswege nicht klar definiert waren, fühlten sich große Teile der Partei nicht eingebunden.

Diese Einbindung wäre gerade auch unsere Aufgabe als Landesvorsitzende gewesen. Das haben wir viel zu wenig getan – zum einen, um die Kooperation innerhalb der Führungsgruppe nicht zu gefährden. Zum anderen, weil wir selbst als Teil der Wahlkampfmaschinerie die meiste Zeit damit beschäftigt waren, diese Maschine irgendwie am Laufen zu halten. Im Rückblick wäre es besser gewesen, wir hätten dort, wo wir Fehlentwicklungen erkannt haben, auf einer Korrektur bestanden, anstatt uns immer weiter „im Hamsterrad“ zu bewegen.

Durch die unklare Struktur und die mangelhafte Einbindung fehlte vielen Entscheidungen dann auch die Akzeptanz. Wir brauchen für Wahlkämpfe demokratisch legitimierte Strukturen, die sowohl entscheidungsfähig sind als auch die stetige Rückkopplung mit der Basis gewährleisten.

4. Umfragewerte von 30 Prozent machen uns (noch) nicht zur Volkspartei.
Wir stehen jetzt vor der Aufgabe, unsere Arbeitsweise und organisatorische Aufstellung an unser Wachstum und unsere neue Rolle anzupassen, damit wir mit besseren Voraussetzungen in den nächsten Wahlkampf gehen. Dazu gehören auch Formate und Kommunikationsformen, die den kontinuierlichen Austausch mit gesellschaftlichen AkteurInnen gewährleisten.

5. Wir haben einen Wahlkampf gemacht, der die Stadt, unsere Wählerinnen und Wähler und unsere Kandidatin nicht richtig zusammen gebracht hat. Bei der Wahlkampagne hat uns der Mut gefehlt, selbstbewusst eine Grüne Linie zu präsentieren. Wir kamen mit einer Anmutung daher, die weder zu uns gepasst noch die passende Geschichte über uns oder die Kandidatin erzählt hat. Weder haben wir damit die „klassischen“ Erwartungen an uns erfüllt noch überzeugend dargestellt, dass auch eine Grüne Partei mit 30 Prozent-Umfragewerten anders ist als andere Parteien dieser Größe. Damit haben wir nebenbei eine Steilvorlage für die Piraten geliefert.

17,6 % der WählerInnen haben uns ihre Stimme gegeben – trotz unserer Fehler und Versäumnisse. Deren Hoffnungen dürfen wir nicht enttäuschen, gerade in Zeiten einer rot-schwarzen Koalition, die den kleinsten gemeinsamen Nenner und den Erhalt des status quo zum Regierungsprogramm erhoben hat. Gerade jetzt braucht Berlin eine ideenreiche und profilierte grüne Oppositionsführerschaft, die Alternativen aufzeigt und engagiert für eine andere Stadtpolitik streitet. Diese Arbeit beginnt jetzt – genauso wie unsere Aufstellung für die nächsten Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus und den Bezirksverordnetenversammlungen. Wenn es uns gelingt, durch den letzten Wahlkampf klüger zu werden, ist das die beste Voraussetzung für grüne Erfolge in der Zukunft.