Ein Blick nach innen

19.12.11 –

von Jochen Biedermann

(Stachlige Argumente Winter 2011, Nr. 184, Seite 26f.)

2011 haben wir zum dritten Mal in Folge bei einer Berliner Wahl ein enttäuschendes Ergebnis erzielt. Kann 2001 – wenige Woche nach dem 11. September - als Sonderfall durchgehen, gilt dies für 2006 und insbesondere für 2011 nicht. Das beste Ergebnis bei einer Berliner Wahl kann nicht darüber hinweg täuschen, dass wir in einer traditionellen Hochburg unter die bundesweiten Umfrageergebnisse gerutscht sind. Auch wenn dies innerhalb weniger Wochen passierte, liegen die Ursachen dafür teilweise wesentlich tiefer und länger zurück. Dieser Beitrag fokussiert sich auf parteiinterne Aspekte und kann nur ein Baustein einer umfassenden Analyse sein.

Teambildung statt Misstrauen

Mit der Neuwahl des Landesvorstandes im Frühjahr ist es gelungen, zwei Vorsitzende zu wählen, von denen sich viele Teile der Partei auch tatsächlich vertreten fühlen und die in erkennbarem und erfreulichem Kontrast zu früheren Doppelspitzen als Team auftreten. Die Wahl kam allerdings zu spät und hat sicherlich zu unklaren Verantwortlichkeiten und Entscheidungen beigetragen. Für die Zukunft brauchen wir einen längeren Vorlauf ebenso wie eine klare und institutionalisierte Einbindung von Beraterzirkeln in die Arbeit der gewählten Gremien.  

Die Neuwahl hat zudem leider nicht dazu geführt, das gegenseitige Misstrauen, das an vielen Stellen um sich gegriffen hat, zu beseitigen. Statt einer produktiven inhaltlichen Auseinandersetzung ringen wir zunehmend um Formulierungen und führen Stellvertretungsdebatten, die vielfach nicht verstanden werden. Die konkret formulierten Positionen unterscheiden sich inhaltlich vielfach kaum. In der Debatte schwingt aber immer mit, was wirklich gemeint ist oder auch nur gemeint sein könnte. Die Auseinandersetzung über das Schulsystem vor einiger Zeit, wo selbst vielen Aktiven die Unterschiede der beiden Anträge auch nach längeren Diskussionen nicht deutlich wurden, sind hierfür das deutlichste, keineswegs das einzige Beispiel.

Tonlagen können integrieren – mit Mut zu Inhalten

Statt über konkrete Projekte und Positionen führen wir erbitterten Streit über die Tonlage, über die Art der Ansprache, etwa in der Integrationspolitik. Dieses Misstrauen in Verbindung mit der einseitigen Fokussierung auf Geschlossenheit und der Personalisierung von Sachentscheidungen hat zu einer inhaltlichen Verflachung unserer Programmatik in den letzten Jahren geführt. Wir brauchen dringend den Mut zur Debatte und den Mut zu Inhalten! Dafür müssen wir auch neue (Diskussions-) Räume schaffen, um Positionen zu erarbeiten, die dann auch tatsächlich eine Chance haben, grüne Programmatik zu werden. Die Werkstätten waren hier ein guter Anfang und keineswegs – wie anfänglich gelästert wurde – nur ein Instrument, um die Partei im Jahr vor der Wahl zu beschäftigten. Der Programmprozess war hierfür leider kein gutes Beispiel: hochgradig, aber leider doch selektiv geheim und im Entwurf bereits abgeschlossen, ehe alle Werkstätten stattgefunden hatten, hat er recht viel Unmut erzeugt.

Gescheitertes Ziel: Eine Stadt der Mehrheit

Daneben ist das Ziel, ein Programm für eine Mehrheit der Stadt vorzulegen, erkennbar gescheitert. Der Versuch, den Entwurf in einem kleinen Zirkel zu schreiben und Ecken und Kanten möglichst zu vermeiden, hat zur Frustration von Fachpolitiker_innen geführt, die das Gefühl hatten, ihr Know-How sei nicht erwünscht. Hier liegt eine der Ursachen der Attraktivität der Piratenpartei auch für viele grüne Sympatisant_innen. Der teilweise intransparente Programmprozess hat zudem dazu geführt, dass Äußerungen von Renate noch genauer beobachtet wurden, als ohnehin und insgesamt mit einer Reihe von unglücklichen Aussagen unsere Berlin-Kompetenz infrage gestellt wurde. Da wir in der Berichterstattung mit klaren inhaltlichen Positionen nicht punkten konnten, wurde die zu lange offen gehaltene Koalitionsfrage angesichts sinkender Umfragewerte zunehmend als reine und inhaltsfreie Machtoption wahrgenommen und hat dadurch die Wahrnehmung unserer Inhalte zusätzlich behindert.

Mit Tisch und Stuhl – erfolgreich: Bitte mit Kommunalos

Ein Erfolgsfaktor für bündnisgrüne Politik ist sei jeher die starke Verankerung in der Kommunalpolitik. Die unermüdliche, meist ehrenamtliche Arbeit vieler Aktiver vor Ort hat uns viel Kompetenz und Vertrauen gebracht. Sie ist außerdem ein wichtiger Seismograph für die politische Stimmung. Wer sich – zumal mitten im Wahlkampf - öffentlich darüber wundert, was Berlin doch für ein „kleines Karo“ sei, hat die Stadt offensichtlich nicht verstanden. Viele Berliner_innen interessieren sich für die ganz konkreten Probleme vor Ort. Das Gefühl von Desinteresse gerade an diesen Problemen dürfen wir nicht entstehen lassen.
Die dialogischen Wahlkampfauftritte in den letzten Wochen– „Politik mit Tisch und Stuhl“ - haben dazu ein erfrischendes Gegengewicht geboten und im Kleinen überzeugt. Sie waren aber zu spät und zu vereinzelt, um das Blatt noch einmal zu wenden.

Zurück zu den Ideen – hört auch auf die Ehrenamtlichen

Wenn wir wieder zum Ideengeber werden und die rot-schwarze Koalition vor uns hertreiben wollen, müssen wir zunächst unsere Hausaufgaben machen. Dazu gehört ein respektvoller Dialog und ein verantwortungsvoller Umgang mit Ehren- wie Hauptamtlichen. Listenaufstellungen waren nie ein Musterbeispiel für faire Auseinandersetzungen, die unappetitlichen Vorgänge in diesem Jahr aber leider ihr trauriger Höhepunkt. Wir müssen aber auch die Frage stellen, ob wir unser Geld sinnvoll ausgeben. Ob es richtig ist, viel Geld für professionelle Externe auszugeben, von den eigenen Leuten aber ein Höchstmaß an (Selbst-)Ausbeutung vorauszusetzen oder zumindest zu tolerieren. Keine Agentur kann und sollte das Engagement der zahllosen Ehrenamtlichen ersetzen, die auch in diesem Wahlkampf jeden Tag auf der Straße standen. Das ist kein Automatismus, sondern braucht Überzeugung, Begeisterung und Anerkennung genauso wie vernünftige Rahmenbedingungen und eine gute Organisation.
Auch hier liegt viel Weg vor uns - gehen wir's gemeinsam an!

Der Autor ist Mitglied der BVV Neukölln.