Lieber den Spatz auf dem Dach als die Taube in der Hand

19.12.11 –

von Reiner Felsberg, Jürgen Wachsmuth und Matthias Tang

(Stachlige Argumente Winter 2011, Nr. 184, Seite 26)

Vor einem Jahr hatten wir Großes vor: Die Umfragen sahen Bündnis 90/Die Grünen als stärkste politische Kraft in Berlin. Es war beinahe schon ein Muss, Renate Künast als Kandidatin als Regierende Bürgermeisterin zu nominieren. Der Landesverband wählte sie mit großer Begeisterung, das Wahlprogramm wurde einstimmig beschlossen. Der Wahltag brachte immerhin 17,6 Prozent, ein Rekordergebnis in Berlin. Und doch: Nach den hohen Erwartungen bleibt wieder nur die Oppositionsrolle, wenn auch als stärkste Kraft in der Opposition. Auch das ist neu.

 Fragen blieben offen

Viele innerhalb und außerhalb der Partei sahen uns im Jahr 2010 auf dem Weg von der Milieupartei zur vermeintlichen Volkspartei. Auf der Strecke blieben die Fragen: Wollen wir diese Entwicklung? Müssen wir uns neuen Wählerschichten öffnen oder kommt die hohe Zustimmung in den Umfragen daher, dass sich über die Jahre unser Milieuanteil in Bevölkerung stark vergrößert hat? Dass diese Fragen unbeantwortet blieben, ist symptomatisch. Es ist uns nicht gelungen, ein Verständnis, eine Idee für die heterogene Gesamtstadt zu entwickeln. Als Oppositionspartei mit zehn

bis fünfzehn Prozent fiel das nicht weiter auf. Es reichte, in den einzelnen Politikfeldern oder Bezirken Profil zu gewinnen. Niemand fragte, ob und wie das jeweils zusammenpasst, niemand hielt es für nötig, Verbindungen zwischen den Bereichen bzw. Bezirken zu ziehen. Im Wahlkampf erhoben wir dann mit „Eine Stadt für alle“ einen neuen Anspruch. Das war wohl inszeniert, aber inhaltlich und strategisch wenig fundiert. Wir waren auf den Spagat zwischen 30-Prozent-Umfragen und 15-Prozent-Milieu nicht vorbereitet, weil wir uns in Flügelkämpfen, Bezirksegoismen und Fachdebatten verloren haben. Dem Wahlkampf fehlte in der Konsequenz die einende Idee, das konkrete Ziel – jenseits des Anspruchs, stärkste Fraktion zu werden, was sich schnell als illusorisch herausstellte. Und wenn dem Wahlkampf die gemeinsame Idee und der Biss fehlen, kommen handwerkliche und kommunikative Fehler ganz von alleine: Verwirrende programmatische Aussagen, langweilige Plakate, Unklarheiten über „Handlungsoptionen“, die die Stammwählerschaft verunsicherten, die Unterschätzung der Piratenpartei. Die Einbeziehung einer neuen WählerInnenschaft gelang genauso wenig, wie die Einbeziehung der breiten Grünen Kompetenz in den Wahlkampf. Viele Erwartungen sind enttäuscht worden. Auch die strategische Frage nach dem Umgang mit der SPD, einschließlich Wowereits eingefrorener A100-Joker-Karte, blieb unbeantwortet. Stattdessen wurde wenige Tage vor der Wahl der Konfrontationskurs

von grüner Seite ohne Not verschärft. Erfolgreiche Koalitionen leben jedoch neben der Übereinstimmung in Sachfragen, die sich in einer Koalitionsvereinbarung ausdrücken, maßgeblich vom gegenseitigen Vertrauen der handelnden Personen. Dazu ist es nach zehn Jahren grüner Opposition gegen rot-rot nicht gekommen. Wir haben im Abgeordnetenhaus mal mit der CDU, mal auch als Jamaikaverbund, mal eigenständig gegen rot-rot opponiert. Durchaus erfolgreich: Wir sind als

Oppositionsführerin und als Gewinner der Auseinandersetzung mit rot-rot identifiziert worden. Strategische Fragen wurden aber ausgeblendet, es fehlten vertrauensbildende, informelle Kontakte zwischen den Spitzen beider Parteien.

Fraktion zerschlägt politisches Porzellan

Spätestens mit dem Ende Koalitionsverhandlungen hätten wir beginnen müssen, unsere inneren Widersprüche, die auch ein Resultat der Widersprüchlichkeit Berlins sind, konstruktiv auszutragen. Vereinfacht ausgedrückt: Die „bürgerliche Mitte“ und die „Kreuzberger Szene“ gehören beide zu Berlin, bei uns stehen sie sich scheinbar unversöhnlich gegenüber. Die einen wittern hinter jedem Kontakt mit der IHK Verrat, die anderen sehen in der Kritik gleich „Wirtschaftsfeindlichkeit“. Es müsste darum gehen, eine Politik zu entwickeln, die mehr ist als die Addition einzelner Teile, eine

Politik, die aus der Binnensicht von Bezirken, Flügeln und Fachkreisen herauskommt und den Blick tatsächlich und nicht nur auf Plakaten auf die Stadt als Ganzes richtet. In einer widersprüchlichen Stadt wie Berlin ist das keine leichte Aufgabe. Es wird Kontroversen und Entscheidungen geben müssen. Sich wahlweise in linken oder rechten, Kreuzberger oder bürgerlichen Wagenburgen einzurichten,

ist aber kein Ausweg. Doch was passiert? In der Fraktion wird der Flügelstreit in einer Art und Weise auf die Spitze getrieben, die bundesweit längst anachronistisch ist. Das Desaster in der Fraktion ist nicht vom Himmel gefallen, sondern das Ergebnis der inhaltlichen und strategischen Defizite. Statt diese anzugehen, haben beide Seiten jede Menge politisches Porzellan zerschlagen.

Kein „Weiter so“ in alten Denkmustern

Mit dem simplen Links-Rechts-Schema lässt sich kein Problem Berlins lösen. Wir Grüne sind für eine Öffnung der Politik angetreten, für eine Mit-Mach-Stadt, die niemanden ausgrenzt, sondern den Dialog mit allen sucht. Aktuell erleben wir das Gegenteil: In der Fraktion werden Links-Rechts- Gegensätze zementiert, statt sie konstruktiv auszutragen.
Damit muss Schluss sein!

Wir erwarten, dass diese Selbstblockade schleunigst beendet wird. Dazu müssen alle Beteiligten ihren Beitrag leisten. Bündnis 90/Die Grünen wurden von 256.000 Menschen gewählt, damit sie zur Lösung der Probleme in Berlin beitragen.

Wir fordern deshalb die Kreisverbände und die Landesarbeitsgemeinschaften auf, mit den Abgeordneten der neuen Fraktion eingehende Gespräche über deren aktuellen Zustand und die künftige Arbeit als stärkste Oppositionskraft zu führen und daraus Perspektiven für die Politik von Bündnis 90/Die Grünen zu entwickeln.

Reiner Felsberg und Jürgen Wachsmuth waren Geschäftsführer und Matthias Tang war Pressesprecher der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im Abgeordnetenhaus des Landes Berlin