Meine A 100

06.01.12 –

von Jochen Esser

(Stachlige Argumente Nr. 184, Winter 2011, online)

Meine Geschichte der A 100 ist eine Geschichte verpasster Gelegenheiten, zu Entscheidungen zu kommen. Das wird uns immer wieder passieren, solange es in unserer Partei keinen Ort gibt, an dem Inhalte und Strategie zusammengedacht werden.

Jetzt geht’s los!
Als es im Frühjahr 2009 mit der A 100 so richtig losging, streunte ich über die Flure des Abgeordnetenhauses und sagte: „Leute, haltet bloß den Ball flach. Das wird noch unser Moorburg.“ Nein, das könne man nicht vergleichen, sagten da die Umwelt- und Verkehrspolitiker, die Stadtplaner, Kreuzberger und Freunde des Treptower Parks. Anders als in Hamburg sei hier die Rechtslage völlig offen. Es müsse ja erst mal Baurecht geschaffen werden. Und eben diesen Planfeststellungsbeschluss gelte es zu verhindern.
„Ja, aber politisch wird vielleicht später doch ein Fallstrick daraus“, sagte ich. Nein, sagten da die betroffenen Fach- und Bezirkspolitiker, in der SPD und in der Linkspartei sei mächtig Bewegung. Da müsse man jetzt Druck ausüben.
Mit der Bewegung bei SPD und Linken hatten sie Recht. Ein paar Monate später im Sommer 2009 beschlossen die Parteitage von Linkspartei und SPD, der Senat solle auf den Bau der A 100 verzichten. Dennoch trieb die zuständige Senatorin Junge-Reyer mit Wowereits Segen das Planfeststellungsverfahren voran, als hätte es die Parteibeschlüsse nicht gegeben.
Derweil wurde auf unserer Seite kräftig getrommelt. Bürgerinitiativen bildeten sich, Gutachten wurden erstellt, Flugblätter geschrieben, Aufkleber gedruckt, Transparente gemalt, Aktionen veranstaltet. Das volle Programm wurde angeworfen. Abertausende Einwendungen wurden formuliert und eingereicht, als im Oktober 2009 die Bürgerbeteiligung begann. Die Bezirksverordnetenversammlungen von Kreuzberg, Lichtenberg und Pankow fassten Beschlüsse gegen die A 100.

Wowereits Schachzug
Ein Jahr lang sah es so aus, als könnten wir den politischen Rahm abschöpfen, ohne später den Preis dafür zahlen zu müssen. Dann kam die Wende. Wowereit kündigte an, für die A 100 zu kämpfen und die Beschlusslage seiner Partei zu kippen. Er stellte die Machtfrage in der SPD und obsiegte auf dem Parteitag im Juni 2010 mit 113 zu 108 Stimmen. Wowereit hatte unter Aufbietung seiner Person und seiner politischen Zukunft Kopf und Kragen riskiert, um seine Partei nach rechts zu rücken und gegen die Linkspartei und vor allem gegen uns in Stellung zu bringen.
Bei mir klingelten die Alarmglocken. Hier ging es nicht um 3,2 Kilometer Autobahn. Hier ging es um mehr. Ich rannte über die Flure von Fraktion und Partei und verbreitete das Bild vom Schachbrett. „Leute, das ist ein durchtriebener Hund, der strategisch und in Optionen denken kann. Nun hat er eine Figur – sagen wir, einen Springer – so aufs Brett gestellt, dass er uns im nächsten Zug matt setzen kann, wenn er denn will.“ „Interessant“, sagten mir alle Gesprächspartner, „da sollten wir im Hinblick auf Koalitionsverhandlungen mal drüber nachdenken.“
Das war’s dann auch. Ich mache den Leuten keinen individuellen Vorwurf.
Es gibt bei uns im Landesverband einfach keinen Ort, an dem man Fachpolitik und Strategie zusammen bringen und Tagespolitik mit Weitblick kombinieren kann. Auch ich vergaß die Sache wieder und fuhr erst mal in Urlaub.

Last Exit
Wowereit und Junge-Reyer trieben die Sache voran. Der Tag der Entscheidung nahte. Im Oktober 2010 sollte der Senat den Planfeststellungsbeschluss fassen. Die in die Ecke getriebene Linke bereitete das Umfallen vor. „Gebaut wird erst, wenn der Bagger kommt“, erklärten Udo Wolf und Klaus Lederer. Der Planfeststellungsbeschluss als solcher sei nicht so bedeutend.

„Lüge!“, schoss es mir durch den Kopf. Planfeststellung bedeutet in diesem Fall Baugenehmigung für den Bundesverkehrsminister. Jedes Kind kennt die Schilder an den Autobahnbaustellen „Hier baut die Bundesrepublik Deutschland“. Mit dem angekündigten Senatsbeschluss würde die Berliner Politik die Entscheidung, ob und wann der Bagger kommt, in Ramsauers Hände legen.
Ich rannte wieder über die Flure. „Wir dürfen die Roten mit ihrer Legende vom Bagger nicht durchkommen lassen. Der Kampf gegen die Planfeststellung ist das letzte Gefecht in Sachen A 100 und zugleich die letzte Gelegenheit, um aus der Sache herauszukommen  Wenn wir verlieren, müssen wir ehrlich sagen, dass der Bau der A 100 nicht mehr in der Hand der Berliner Politik liegt. Das ist auch strategisch das Klügste. Denn was machst du, wenn dir auf dem wahlpolitischen Schachbrett Matt in einem Zug droht? Du schiebst deinen König aus der Gefahrenzone.“
Nein, antworten die vereinigten Fach- und Bezirkspolitiker. So dürfe ich die Sache nicht sehen. Juristisch stimme das zwar alles, aber es stünde noch gar kein Geld im Bundeshaushalt für die A 100. Und auch die Klage des Bezirksamts Kreuzberg verspreche Erfolg. Deshalb seien noch längst nicht alle Messen gesungen.
„Dann können wir alles Weitere doch der Haushaltsberatung im Bundestag und den Gerichten überantworten“, sagte ich. Nein, wurde mir entgegnet, ein solches Beiseitestehen sei den Betroffenen, den Umweltverbänden und der eigenen Basis nicht zu vermitteln. Der Kampf müsse weitergehen.
Ich wandte mich wieder meinem Haushaltsplan zu und tröstete mich mit den Umfragewerten, die gerade schwindelerregende Höhen erreichten. Wir schrieben, wie gesagt, Oktober 2010. Und ich dachte, wenn wir diese Werte von fast 30% auch nur näherungsweise halten, verhandeln wir nach der Wahl aus einer Position der Stärke, vielleicht sind wir sogar Chef im Ring.

Der Weg nach unten
Trotz erster Irritationen lebte ich auch im Frühjahr 2011 noch im Schönwetterszenario, in dem sich die „sorgende Renate“ gegen den „Glatteis Klaus“ auf der Siegerstraße befand. Beim Programmparteitag im März 2011 interessierte mich die A 100 wenig. Ich hatte mit dem Haushalt genug zu tun. 
Klar, wir würden jetzt die allerletzte Autobahnabfahrt verpassen. Aber es würde am Ende schon gut gehen. Wir befanden uns ja gerade wieder im Umfragehoch.
Erst im Frühsommer wurde mir das Ausmaß des Unwetters richtig bewusst, das politisch und medial über uns hereinbrach. Verstört kramte ich mein Schachbrett wieder hervor und simste die dort platzierten Figuren namens A 100, Landesbibliothek, Klinikum Steglitz und ICC Richtung Wahlkampfstab. „Wir haben das weitergeleitet“, simste es zurück. Wohin auch immer. Die Sache versendete sich „oben“ an der Spitze genauso wie vorher „unten“ an der Basis. Wir hatten im Wahlkampf so wenig einen Ort der strategischen Entscheidung mit Namen und Adresse wie im normalen Parteileben.
Im August 2011 griffen Wowereit und Müller dann endgültig an und schnitten uns den Rückzug ab. Sie erklärten mehrfach, dass Rot-Grün am Konflikt um die A 100 nicht scheitern werde. Sie seien sicher, dass die Grünen wie immer in solchen Fällen einknicken würden - ob Moorburg oder Moselbrücke. Wowereit hatte den Sack zugebunden. Wir würden der Konfrontation nicht entgehen.
Dass die A 100 von Anfang an ein Mittel war, die Wähler reinzulegen und die eigene Partei in eine Koalition mit der CDU zu zwingen, sagten Wowereit und Müller natürlich nicht. Stattdessen malten sie weiter das schwarz-grüne Gespenst an die Wand

 Endspiel
Auf der Fraktionssitzung vor der letzten Sitzung im Abgeordnetenhaus beratschlagten wir, was zu tun sei. Sollten wir klein beigeben? Sollten wir in Kauf nehmen, dass Wowereit dann erklären würde, wir seien eingeknickt wie von ihm vorhergesagt? Sollten wir obendrein riskieren, dass Wowereit sich einen anderen Konfliktpunkt greifen würde, um zu einer Koalition mit der CDU zu kommen?
Oder sollten wir die A 100 in einer letzten Wahlkampfanstrengung zu der Scheidelinie zwischen Rot-Grün und Rot-Schwarz erklären, die sie ja tatsächlich war. Dann müssten wir ziemlich laut sagen, dass Wowereit seine Autobahnpläne nur mit der CDU aber nicht mit uns weiter verfolgen kann. Dann müssten wir bis zur letzten Minute plakatieren, dass in Folge dieser Kontroverse nur eine Stimme für die Grünen eine sichere Stimme gegen Rot-Schwarz ist.
Wir haben uns für Letzteres entschieden. 
Das war am 30. August, drei Wochen vor der Wahl. Wir haben uns damals tief in die Augen geschaut und alle haben beklommen genickt, als die Frage noch einmal gestellt war, ob wir jetzt rausgehen und die Sache entsprechend hochziehen wollen. Wir wussten, dass dies ein Spiel unter Einsatz des Eintrittsbilletts in die einzige Regierungsvariante würde, die uns nach dem verunglückten Wahlkampf geblieben war.
Richtig oder falsch? Der Ausgang ist ja jetzt bekannt. Wer wirft den ersten Stein? Ich neige im Lichte meiner Erlebnisse der Ansicht von Reinhardt Bütikofer zur A 100 zu: „Das hätte man zu Beginn des Wahlkampfs anders einfädeln können, aber nicht mehr an seinem Ende.“

Der Autor ist Mitglied des Abgeordnetenhauses Berlin und finanzpolitischer Sprecher der Fraktion