Mitte - von allem etwas, von manchem mehr

19.12.11 –

von Alessa Berkenkamp

(Stachlige Argumente Winter 2011, Nr. 184, Seite 32)

18. September 2011. 17:50 Uhr.
Hunderte Menschen drängen sich in den Festsaal Kreuzberg. Dicht an dicht. Es herrscht Anspannung pur. Und meine Familie hat sich zu allem Überfluss in die Presseecke gedrängt. „Da war‘s so schön leer“, erwidert Mama, die im Wedding Häuserwahlkampf gemacht hat. „Eine gute Wahl und meine Tochter!“, hat sie zwinkernd an dutzenden Haustüren verkündet. „Und du hast dich nicht gewundert, warum es hier so leer war?“, frage ich. Natürlich nicht. Woher auch. Es ist die erste Wahlparty in großer Familienrunde.

18 Uhr.
18 Prozent. „Tief gefallen von über 30 Prozent“, denke ich. Aber ich jubele, unendlich laut und sehr euphorisch. Ich setze alle Gliedmaßen zum Jubeln ein. Ich muss das tun. Ich stehe immer noch in der Presseecke.

22:30 Uhr.
Es herrscht Gewissheit. „Mitte wählt Pop“, verkündet Ramonas Plakat. Und ja, sie holt Alt-Mitte. Klar und deutlich. In Tiergarten Süd fehlen Tilo Siewer 440 Erststimmen. Und in Moabit verpasst Martin Beck mit nur knappen 77 Stimmen das Direktmandat. Eine Mischung aus „Mist!“, Trauer und Frust macht sich breit. Doch dann klopft David mir auf die Schulter: „Vom Wedding bis in den Süden haben wir zugelegt. Überall! Und nicht nur 2 Prozent. Sondern zwischen 6 und 9 Prozent. Das ist doch der Hammer! Darauf trinken wir einen!“ David ist mitten im Wahlkampf Mitglied geworden und hat sich gleich an Haustüren und Stände gewagt. Er war einer der 80 Menschen, die in den letzten 3 Monaten bezirksweit unterwegs waren – von morgens halb 8 bis spät in die Nacht, von der Fischerinsel über die Seestraße bis ins Hansaviertel. Ohne ihn, ohne alle die anderen hätten wir blass ausgesehen. Eigentlich hätte ich ihm auf die Schulter klopfen sollen. Er hat es verdient.

Mitte – Mekka des Reichtums?
In den Köpfen vieler ist Mitte das Mekka des Reichtums. Ob am niemals schlafenden Rosenthaler Platz, rund um den internationalen Hackeschen Markt oder den gediegenen Gendarmenmarkt – Mieten, Designerläden und Lebensstil suggerieren, hier ist das Geld zuhause. Wenige Meter ab davon sieht das Bild schon anders aus: Rund um die Leipziger Straße findet man Plattenbauten, deren Bewohnerinnen und Bewohner sich noch sehr gut an die DDR erinnern können. Nordwestlich vom Hauptbahnhof liegen Knast und Gentrifizierung sehr nah beieinander. Und der Wedding kommt, so zumindest das Mantra seit Jahren. Aktuell ist in Moabit und Wedding die Arbeitslosigkeit allerdings noch ein Drittel höher als im Berliner Durchschnitt. 10 Prozent mehr Hartz-IV-Aufstockerinnen und -Aufstocker sind hier zuhause und die Kinderarmut ist fast doppelt so hoch. Die Mieten steigen natürlich trotzdem.
Ja, der Bezirk Mitte ist Vielfalt pur. Er beherbergt Sorglosigkeit und Sorgenreichtum zugleich. Und er ist der bunteste Bezirk Berlins. 45 Prozent aller Menschen hier im Bezirk sind Migrantinnen, Migranten oder deren Kinder. Ihre Wurzeln haben sie im Schwäbischen Ländle, der Türkei, den USA, Polen oder dem Libanon. Dazu kommt eine Mischung aus ost- und westdeutsch.
„Politik für Mitte zu machen, heißt, vielfältige Interessen zu einem schlüssigen Konzept für den Bezirk zu vereinen. Wir setzen uns gleichzeitig für den jungen Arbeitslosen ohne Schulabschluss, die umweltbewusste Mutter und das ältere Ehepaar, das eine Mieterhöhung fürchtet, ein“, erklärt Dorina Kunzweiler-Holzer, stellvertretende Fraktionssprecherin. Nehmen wir ein einfaches Beispiel: Mitte ist einer der jüngsten Bezirke Berlins und dennoch machen wir Politik für alle Generationen. Deswegen hat Stephan von Dassel, grüner Stadtrat für Bürgerdienste und Soziales, eine Börse für generationsübergreifendes Wohnen eingeführt. Der Effekt ist zweierlei: Die Studierenden, die sich Mittes Mietpreise nicht leisten können, und diejenigen, die im Alter selbstständig wohnen wollen, aber im häuslichen Alltag gelegentlich Hilfe brauchen, kommen endlich zusammen. 

Heimat der Barrieren, Mauern und Grenzen
Hand auf‘s Herz: Vielfalt schafft oft leider auch abgegrenzte Räume und Barrieren. Das gilt für den unfertigen Mauerpark, der immer noch keinen Zugang vom und zum Wedding bietet und deswegen fast ausschließlich Touristinnen, Touristen, Altmitte und den Prenzlauer Berg beherbergt. Bis heute bleibt der Wedding außen vor. Bis heute bleibt der Weddinger Teil des Mauerparks unfertig und Ziel einer Bebauung, so wünscht es zumindest der Besitzer des Grundstücks, die Immobiliengesellschaft Vivico. Dagegen setzen sich Anwohnende kräftig zur Wehr und gründen zahlreiche Initiativen und die Mauerpark Stiftung Welt-Bürger-Park. Zwischen all den Interessen ist eins klar: Wir kämpfen für einen Mauerpark, der allen gehört, allen offensteht und von Jung bis Alt genutzt werden kann.
Barrieren existieren aber auch dort, wo Zäune längst nicht mehr stehen. Zwischen dem Wedding und Altmitte ragen an der Bernauer Straße kupferne Steelen aus der Erde. Sie symbolisieren die durchbrochene Mauer. Eltern, Bildungspolitikerinnen und -politiker rund um die Bernauer Straße wissen, hier steht die Mauer noch – wenn auch in den Köpfen der Menschen. Denn das Interesse an Schulen südlich der Bernauer Straße ist riesig, während den Schritt gen Wedding die wenigsten Eltern tun. Wenn zusammenwachsen soll, was per Bezirksreform 2001 zusammengepackt wurde, muss hier noch kräftig in die Hände gespuckt werden.
Jutta Schauer-Oldenburg ist 73 Jahre alt und unsere lebendigste Streiterin für Bildungspolitik. „Es ist wichtig, dass die soziale Mischung stimmt, dies- und jenseits der Bernauer Straße“, erklärt die Fraktionssprecherin voller Inbrunst. „Wir wollen nämlich unabhängig vom Wohnort und dem Geldbeutel gleiche Chancen schaffen und kein Kind zurücklassen.“
Dass dies keine Floskeln sind, merkt man auch daran, dass im Bezirksparlament Politik macht, wer dort vermeintlich keinen Platz hat. Martin Zierold ist 26 Jahre jung und der erste gehöhrlose Politiker Deutschlands. Ja, es ist eine Revolution im Parlament. Seitdem lernen wir alle Gebärden und zwingen die Bezirksverwaltung, sich zu öffnen. Wir reden halt nicht nur über Inklusion, wir leben sie.

Wirtschaften zwischen Spielhallen und Dönerläden
Auch wirtschaftlich könnte die Vielfalt kaum größer sein. Während sich in Moabit und im Wedding Spielhallen an Dönerladen reihen, sind dutzende kleine Firmen, mittelständische Unternehmen und die digitale Bohème zuhause in Altmitte. Ja, das Feld ist groß und so heißt es wieder einmal, Politik für alle zu machen. Unsere grünen Wirtschaftsgespräche im Wedding haben gezeigt, wie schwer es sein kann, die Mischung aus sozialen Initiativen, Künstlerinnen, Künstlern, Dienstleistungen, Gastronomie und Gewerbe herzustellen. „Dennoch ist die Mischung unendlich wichtig, weil uns sonst sozial benachteiligte Kieze und boomende Zentren nebeneinander blühen“, mahnt Andrea Fischer, ehemals Bundesgesundheitsministerin und heute Fraktionssprecherin im Bezirk.

Auftrag Zukunft: Aus Rot mach endlich Grün
Ob Inklusion, Mauerpark oder Wirtschaftsförderung im Bezirk, Mitte ist Heimat der Baustellen – physisch und politisch. Trotz sehr guter Ergebnisse sind wir im Land wie im Bezirk leider in der Opposition gelandet. In Mitte-Süd, ehemaliges Staatsgebiet der DDR und tendenziell dunkelrot, hat Silke Gebel die grünen Erststimmen von 9,4 auf 15,5 Prozent hochgeschraubt. Im nördlichen Wedding, gerne der rote Wedding genannt, haben wir uns mit Daniel Gollasch fast verdoppelt (von 10,2 auf 19 Prozent). Und im Gesundbrunnen, meinem Wahlkreis, haben wir mit 21,9 Prozent endlich Platz 2 eingefahren (6,9 Prozent Plus). Bei der Wahl zum Bezirksparlament sind wir mit wunderschönen 24,1 Prozent ins Ziel eingelaufen, wenn auch als Zweite.
Damit haben wir gezeigt, welche Zugewinne in vermeintlich roten Gefilden möglich sind.
Wir haben an 20.000 Haustüren geklingelt, kein Kiezfest ausgelassen, Initiativen besucht, vor Einkaufszentren gekämpft, diskutiert und überzeugt, wochen- und monatelang. So viel Liebesmühen und dennoch heißt das Farbenspiel Rot-Schwarz – im Land wie im Bezirk. In Mitte blüht uns nun eine Brötchentaste am Parkautomaten, ein Grillverbot im Tiergarten und zu allem Überfluss eine Extremismusklausel. Denn der CDU ist es wichtig, die Verfassungstreue abzufragen, bevor der Bezirk Gelder zur Förderung freigibt. Und der CDU war es wichtig, noch einen Posten mehr zu bekommen. Stadtentwicklung, Ordnungsamt, Wirtschaftsförderung und Tiefbau- und Landschaftsplanung reichten nicht, da hat die SPD draufgesattelt. Bei all diesen Dreistigkeiten tröstet uns, dass wir 4 Bezirksverordnete und eine Stadträtin mehr sind, die für eine nachhaltige, solidarische Politik streiten. Neben Stephan von Dassel wird zukünftig Sabine Weißler, Moabiterin und Kennerin der Berliner Kulturszene, Stadträtin für Weiterbildung und Kultur, Umwelt und Naturschutz. 30 Prozent mehr grüne Kraft! Also, reingeschlüpft in den grünen Blaumann und Mitte mitgestalten!

 Szeneriewechsel - Presseecke fatal
19. September 2011, der Tag danach, mein Kopf dröhnt. Und Mama begrüßt mich zum Frühstück mit der freudigen Nachricht, dass meine Tanten vier Interviews gegeben haben. Voller Stolz fügt sie hinzu, dass die Familie meinen Namen hat fünf Mal fallen lassen – laut und deutlich. Mein Bruder zählt derweil auf, in welchen Medien die Familie erscheint und mir dämmert es so langsam, dass ich es eine gute Idee fand, unter Alkohol ein Interview für den Bayrischen Rundfunk zu geben. Ach, diese verdammte Presseecke!

 Infos:
Mitte zählt 720 Mitglieder und ist damit der zweitgrößte Kreisverband Berlins. Mitglieder und Interessierte treffen sich in der Regel jeden 1. und 3. Dienstag im Monat um 19 Uhr, meist im Rathaus Tiergarten, und diskutieren grüne Bezirks- und Landespolitik. Die aktuellen Termine findest du auf gruene-mitte.de. Außerdem gibt es Arbeitsgruppen, die unsere Fraktion bei ihrer inhaltlichen Arbeit unterstützen.
Komm auch du und mach mit!