Oppositionskurs: Offensiv grün! Kritisch diskutieren, aus Fehlern lernen, Opposition gestalten

06.01.12 –

 von Clara Herrmann, Stefan Ziller und Anja Schillhaneck

(Stachlige Argumente Nr. 184, Winter 2011 online)

 Eine kritische Selbstbetrachtung unserer Rolle und unseres Ergebnisses der Abgeordnetenhauswahl 2011 ist dringend geboten. Berlin hat mit überwältigender Mehrheit „Mitte-Linke“ gewählt. Berlin bekommt Rot-Schwarz, und das Duo Wowereit/Henkel lacht sich ins Fäustchen. Wir GRÜNE dürfen jetzt nicht in Depressionen versinken oder den Ärger über die sozialdemokratische Koalitionsentscheidung an uns selbst auslassen, sondern müssen aus unseren Fehlern lernen und zu einer guten und harten Oppositionsarbeit kommen.

  1.  Die Chance auf ein Wahlergebnis von 20% + X war da. Mit einem solchen Ausgang hätte es eine deutlich höhere Wahrscheinlichkeit für eine grüne Regierungsbeteiligung in Berlin gegeben.
  2.  Wir haben nicht nur in einem, sondern in mehreren Bereichen Fehler gemacht:
    - Strategie: Offenhalten von Grün-Schwarz; verwässertes inhaltliches Profil
    - Kampagne: personalisiert, LANGWEILIG und diffus
    - schlechtes Auftreten und Überheblichkeit – wir waren uns zu sicher!
  3. Die Piraten haben den grandiosen Wahlerfolg zu einem großen Teil uns zu verdanken, und Frank Henkels CDU wäre ohne uns nicht so leicht in den Senat gekommen.

Die Ausgangslage:
Die Umfragen, die politische Großwetterlage auf Bundesebene und die guten Wahlergebnisse bei den vorherigen Landtagswahlen in Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg, Bremen, Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern zeigen: In Berlin war für uns mehr drin als die 17,6%, die wir eingefahren haben.

Das Wahlergebnis:
SPD: 28,3 CDU: 23,3 Grüne: 17,6 Linke: 11,7 Piraten: 8,9 FDP: 1,8; Sonstige: 8,3

 Die anderen:
Die SPD ist zwar erneut stärkste Kraft geworden und kann mit Klaus Wowereit wieder den Regierenden Bürgermeister stellen, hat aber an Stimmen verloren, was auch einige wichtige Direktmandate gekostet hat. Insgesamt kann dieses Ergebnis die SPD nicht glücklich machen. Mit „König Klaus“ und ohne Programm fährt sie Verluste ein. Die CDU konnte leichte Zugewinne verbuchen und hat mehr Direktmandate gewonnen. Damit kann sie sich erholen und kommt auch Dank uns aus der “Nach dem Bankenskandal“ - Krise und bildet mit der SPD den Senat.

Die Linke hat weiter an Boden verloren. Die zehn Jahre Regierungsbeteiligung haben nahezu zu einer Halbierung des Wahlergebnisses von 2001 geführt. Auch in den Bezirken ist es nicht gut gelaufen: Die Linke stellt auch im Ostteil der Stadt keine einzige BürgermeisterIn mehr. Die FDP ist der große Wahlverlierer, mit 1,8% landen sie zwischen Tierschutzpartei und NPD. Sie fliegen nicht nur aus dem Abgeordnetenhaus, sondern auch aus jeder BVV. Die Piraten hingegen sind die Wahlgewinner, sie sind nicht nur erstmals in ein Landesparlament eingezogen, sondern haben es zudem in allen Bezirken in die BVV´ en geschafft.

Wir: 17,6 Prozent statt 20 + X

Die Wählerwanderung zeigt, dass das grüne Ergebnis aus dem rot-grünen Milieu (+18.000 Stimmen von der SPD) gespeist wird. Von dem extremen Einbruch der FDP konnten wir nicht profitieren, die ehemaligen FDP-WählerInnen gingen zur CDU (ca. 30.000) oder wechselten ins NichtwählerInnenlager (ca. 16.000). Ein zu vernachlässigender kleiner Teil unserer ehemaligen WählerInnen wählte diesmal CDU. Mit 17.000 ist der Abgang an die Piraten hoch und deutlich. Die Piraten konnten zudem rund 21.000 Stimmen aus dem NichtwählerInnenlager gewinnen. In der Vergangenheit haben sich viele ehemalige NichtwählerInnen für Grün entschieden; sicherlich konkurrieren wir auch in diesem Spektrum mit den Piraten und haben hier potenzielle Stimmenzuwächse verloren. Es war zwar richtig zehn Tage vor der Wahl eine Regierungsbildung mit der CDU auszuschließen und voll auf Rot-Grün zu setzen. Dieser Umbruch kam allerdings viel zu spät. Zu diesem Zeitpunkt hatten sich bereits WählerInnen gegen uns entschieden, per Briefwahl oder Festlegung und der auch von einer uns nicht wohl gesonnenen Presse herbeigeschriebene ‚Piratenhype’ war nicht mehr zu stoppen. Zudem war die strategische Entscheidung, das inhaltliche Profil (insbesondere auf der Handlungs- und Repräsentationsebene) nicht nur auszuweiten, sondern vor allem in eine diffuse Bürgerlichkeit hin zu verschieben, wahrscheinlich das Belastendere.

Was ist passiert?

Beflügelt durch die Umfragen von gut 30 Prozent aus dem Herbst 2010 wurde im November eine grüne Bürgermeisterkandidatin nominiert, die nur auf Sieg setzte. Damit war der Wahlkampf gut ein Jahr vor der Wahl eröffnet. Für die Berliner Grünen ging es seitdem überwiegend abwärts. Mit einem wenig inspirierten Wahlprogramm, einer langweiligen, witzlosen Kampagne und überheblichem Auftreten haben wir uns als beliebige, spießige (Möchtegern-)Volkspartei dargestellt und unsere größte Stärke während unserer Darstellung unter den Tisch fallen lassen:

DIE INHALTE!
Kompetenzen sprechen uns die BerlinerInnen in den Themenfeldern Umwelt, Familie, Integration und transparente Verwaltung zu. Das zeigt, dass das Proklamieren einer „Neuen Politischen Kultur“ richtig war. Der Fokus auf die Wirtschaftspolitik war aber falsch und hat uns direkt in die Falle „grüne FDP“ geführt – zumal urgrüne Themen wie solidarische Ökonomie, Kritik an der Logik des permanenten Wachstums und die Suche nach Alternativen innerhalb der Marktwirtschaft vorsichtig gesagt stark an Sichtbarkeit verloren.

Wahlentscheidende Themen für die BerlinerInnen waren soziale Gerechtigkeit (36%), Wirtschaft (30%), Bildung (27%) und Arbeitsmarkt (18%). Für GrünwählerInnen waren die Themen Umwelt, Bildung, soziale Gerechtigkeit und Energie entscheidend. Die GrünwählerInnen haben sich für uns aufgrund dieser Themen (64%) und nicht aufgrund der Spitzenkandidatin (13%) entschieden. Wir sind eine Programmpartei und hätten diese Stärke mehr nutzen müssen. Insbesondere das Thema soziale Gerechtigkeit und bezahlbare Mieten haben wir zu stark vernachlässigt. Die „Alles auf Sieg“-Strategie führte uns ins „Grün-Schwarz-Dilemma“. Als die SPD in den Umfragen vor uns lag, war eine grüne Bürgermeisterin nur noch mit der CDU möglich. Die Antwort „Die größte Schnittmenge haben wir mit der SPD“ hat nicht darüber hinweggetäuscht und war der Mehrheit der BerlinerInnen nicht eindeutig genug. Der grüne Öffnungskurs gegenüber der CDU (zunächst in Jamaika-Variante) in den letzten fünf Jahren hat viele BerlinerInnen zu Recht verunsichert. Stichworte: gemeinsame Konferenzen, „Nudelessen“, Integrationspolitik, einseitige Presseerklärung zur Räumung der Liebigstrasse oder Wirtschaftspolitik nur mit Blick auf (grüne) Industriepolitik. Mit dieser grün-schwarzen Liebäugelei haben wir fatalerweise nicht nur den überwiegenden Teil unserer WählerInnen verschreckt, sondern auch der schwachen Berliner CDU eine Perspektive gegeben. Ohne uns hätten Frank Henkel und Konsorten wohl nicht so einfach das Siegel „regierungsfähig“ bekommen. Alle anderen Landtagswahlkämpfe 2011 - die Wahlen in Bremen, Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg -, aus denen wir mit prozentualen Zugewinnen und in der Folge mit einer Regierungsbeteiligung hervorgingen, wurden mit einer klaren Absage an die CDU gewonnen. Es war ein Fehler, in Berlin eine Koalition mit der CDU nicht viel früher auszuschließen.
Die SPD nutze unsere Schwächen voll aus und hatte im Wahlkampf genau ZWEI Inhalte.
Erstens:
Klaus Wowereit und
Zweitens:
die Angst vor Grün-Schwarz.
Ging es 2010 noch um die Rot-Rote Bilanz, hieß es im Wahlkampf nur noch „Er oder Sie“ und „wer Grün wählt, wird sich schwarz ärgern“. Im direkten Vergleich der persönlichen Beliebtheit schnitt Klaus Wowereit (65%) wesentlich besser ab, als Renate Künast (23%). Die Wechselstimmung war wie weggeblasen. Auch wenn man die Grünen in der nächsten Berliner Regierung sehen wollte, wollte die Mehrheit die Grünen wohl nicht als stärkste Regierungspartei mit Regierender Bürgermeisterin haben.
Hierfür fehlte uns bis zur Absage an die CDU ein glaubwürdiges Angebot an die BerlinerInnen!

Es war eine deutliche rot-grüne Stimmung in der Stadt vorhanden, es gab das Gefühl, rotgrün wird höchstwahrscheinlich die nächste Regierung, wenn es nicht grün-schwarz wird. Und diese Konstellation wollte die Mehrheit der BerlinerInnen auf gar keinen Fall.

Auf der inhaltlichen Ebene war auch in Berlin die allgemeine Parteienverdrossenheit spürbar. Der langweilige Personenwahlkampf hat nicht gegen diesen Trend gewirkt, sondern eher Gegenteiliges bewirkt.

Beides hat den Piraten geholfen:

  • als strategische Option gegen Grün-Schwarz. Dass es für Rot-Grün knapp werden könnte hatte bis zur letzten Umfrage eine Woche vor der Wahl niemand auf dem Schirm. Doch da waren die Piraten schon interessant und stark (insbesondere durch die Medienberichterstattung)
  • als Alternative zu den etablierten/professionellen Parteien und als Protesthaltung

 Fazit:

Der SPD haben wir es zu leicht gemacht!

Die CDU war das falsche Pferd!

Die Piraten haben von beidem profitiert!

 Aus der Berlin-Wahl 2011 sollten wir lernen:

  • Die Piraten dürfen wir nicht unterschätzen.
    Unsere Stärken sind unsere Inhalte und unsere Glaubwürdigkeit. Beides müssen wir in den Vordergrund stellen, ohne deshalb zwingend als langweilige, spießige Normal-Partei aufzutreten, die ihre Kreativität verloren hat.
  • Aus Baden-Württemberg und Kretschmanns „Understatement-Strategie“ sollten wir für die nächste Abgeordnetenhauswahl lernen.

Kurzfristig sollten wir in Berlin dazu zurückfinden, dass wir nur GEMEINSAM STARK sind.

Das bedeutet aber auch, wie es überall bei den Grünen üblich ist, dass alle angemessen eingebunden und in Führungspositionen vertreten sind. Keine Strömung darf eine andere massiv unterdrücken. Inhaltliche Konflikte müssen wir nicht nur aushalten sondern auch austragen. Wir sind eine lebendige, debattenfreudige und basisdemokratische Partei – zu diesen Grundwerten müssen wir zurückfinden.
Getreu dem Motto:
Gemeinsam sind wir unausstehlich – aber eben auch schlagkräftig und unübergehbar.

Die Konflikte, die seit langem schwelen, müssen jetzt ausgetragen werden. Wenn wir zu keinem gemeinsamen Weg finden, dann wird es schwer, die Rolle der stärksten Oppositionskraft auszufüllen und innerhalb einer linken Opposition die Meinungsführerschaft zu erlangen.

 Offensiv GRÜN!

Ökologische, solidarische und emanzipatorische Politik für Berlin!

  • Eigenständigkeit heißt nicht Beliebigkeit.
  • Eigenständigkeit heißt nicht: Alles geht.
  • Eigenständigkeit heißt nicht Äquidistanz. Denn bei allen Unterschieden bleiben die programmatischen Schnittmengen mit der SPD in wichtigen Feldern bis zum heutigen Tage am größten.
  • Eigenständigkeit heißt erst recht nicht „An die Macht um jeden Preis“, sondern „Werte, Inhalte und Glaubwürdigkeit vor Macht“.
  • Und Eigenständigkeit heißt dann eben auch:
    Wenn sich unsere Inhalte nicht durchsetzen lassen, die Rolle als Opposition annehmen und Politik von dort aus gestalten.“ So insgesamt  unser Beschluss der BDK in Rostock 2009 niederlegte.

 Der rot-schwarze Rollback in die 90er ist katastrophal für Berlin.
In nahezu allen Bereichen ist politisches Handeln gefragt und nicht rot-schwarzer Rückschritt/ Stillstand oder Intransparenz und „Stadt als Beute“ - Mentalität. Berlin braucht eine starke grüne Opposition. Opposition ist nicht der Zustand vor, zwischen oder nach einer Regierungsbeteiligung, Opposition ist auch kein Mist.

Opposition muss und kann kontrollieren und gestalten.

Wir müssen die treibende politische Kraft sein, die neue Ideen und Konzepte mit der Stadtgesellschaft erarbeitet. Die Linke muss zehn Jahre Regierungsbeteiligung aufarbeiten und wird diese Rolle nicht ausfüllen und das ungeschriebene Piratenblatt muss sich erst noch beweisen – das Abschaffen des Dienstwagens für den Fraktionsvorsitzenden, was bei uns übrigens schon längst üblich ist, wird da nicht ausreichen.

Folgende Schwerpunktthemen sollten dabei im Fokus stehen:

Soziale Gerechtigkeit
Berlin ist arm. Die soziale Spaltung schreitet voran. Rot-Rot hat zehn Jahre lang nur zugesehen und Rot-Schwarz zeigt bereits zu Beginn, dass sie das Thema, weder ernst nehmen, noch anerkennen. Im Gegenteil, eine Politik der gesellschaftlichen Spaltung ist fatal für die Stadt. Wir Grüne stellen dem einen solidarischen und emanzipatorischen Gesellschaftsentwurf entgegen. Von der Arbeitsmarkt- bis zur Wirtschafts-, von der Bildungs- bis zur Finanz-, von der Umwelt- bis zur Stadtentwicklungspolitik müssen sich unsere Konzepte an der sozialen Gerechtigkeit messen lassen.

Eine Mietenpolitik für die MieterInnen
Wohnen darf kein Luxus sein. Es ist nicht hinnehmbar, wenn Verdrängung und Segregation zunehmen.

Eine Stadtentwicklungspolitik für alternative Lebensformen
Berlin ist bunt, kreativ und alternativ. Diesen unterschiedlichen Lebensentwürfen Freiräume und Platz in der Stadt zu geben wird zu wenig Rechnung getragen. Berlin kann es sich nicht leisten alternative Projekte und Freiräume zu verlieren. Rot-Schwarz wird an genau die Interessen der alternativen, kreativen Milieus und Projekte NICHT berücksichtigen.

 Umwelt, Umwelt, Umwelt
Klimaschutz, Energieeffizienz, Naturschutz, Bäume, ÖPNV, Radverkehr – alles wird bei Rot-Schwarz nicht vorkommen. Wer, wenn nicht wir, kann und muss der Berliner Umweltpolitik ein Gesicht geben.

Eine Integrationspolitik gegen Hass und Intoleranz
Rechtspopulistische, islamfeindliche Rhetorik ist gerade modern und führt zu Hass und Intoleranz. Wir müssen uns den Buschkowskys und Sarrazins entgegenstellen und eine Integrationspolitik des Miteinanders und der Chancen eine Stimme geben.

 Für Demokratie und Transparenz
Unter Rot-Rot ging die „Stadt als Beute“ Mentalität wie etwa beim Spreedreieck und der Howoge zu besichtigen, weiter. Da wird es mit Rot-Schwarz nicht besser werden.

Die BerlinerInnen zeigen mit ihrem Einsatz und Engagement, dass sie mitreden, mitentscheiden möchten und dafür sind transparente Vorgänge notwendig sind.