Teilhaben und Teilsein? Nicht in diesem Wahlkampf

19.12.11 –

von Alexander Klose und Susanna Kahlefeld

(Stachlige Argumente Winter 2011, Nr. 184, Seite 24 f.)

Zwei Jahre lang hat die LAG Migration und Flucht für ein aufgeklärtes und modernes Wahlprogramm in Sachen Integration gekämpft – am Ende haben (fast) alle verloren.

Als es funktionierte: Unser Leitantrag Teilhabe und Teilsein

Seit 2008 ist die LAG Migration und Flucht wieder Teil des Berliner Landesverbandes. Für viele ihrer Mitglieder war es der erste Wahlkampf, der für uns bereits im Sommer 2010 begann. Auf der Landesdelegiertenkonferenz (LDK) im Juni 2010 war unser Leitantrag zur Grünen Integrationspolitik „Teilhaben und Teilsein“ noch mit großer Mehrheit angenommen worden. Der Antrag bündelte die Ergebnisse des Migrant_innen-Kongresses im März, den Bettina Jarasch angestoßen und maßgeblich mit gestaltet hat. Der Kongress war ein voller Erfolg: in seiner Wirkung in die Stadt hinein und als Mobilisierungs- und Vernetzungsimpuls in die Partei. „Mitmachstadt“ – hier hat es gut funktioniert.

Wenn die Strategen kommen: Wessen Sorgen zählen

Schon auf der LDK im Juni mussten wir jedoch auch erleben, dass die Zustimmung dort, wo es konkret wurde – etwa beim Thema Islamfeindlichkeit – deutlich zurückhaltender war. In den folgenden Monaten gerieten wir zwischen die Flügel der Partei. Während wir bei der Basis viel Überzeugungsarbeit leisten und Missverständnisse aufklären konnten, formierte sich der Widerstand an anderer Stelle. Spätestens auf der November-LDK zeigte sich, dass unsere integrationspolitische Perspektive, die sich klar gegen Ausgrenzung, Diskriminierung und Islamophobie richtet, den „Strategen“ des kommenden Wahlkampfs nicht passte. Stattdessen sollten – wohl auch im Zuge der Sarrazin-Debatte und auf der Suche nach neuen Wähler_innen – die „Sorgen der Menschen“ ernst genommen werden. Gemeint waren dabei nicht die Sorgen der Migrant_innen, die sich durch die „Integrationsdebatte“ diffamiert und ausgegrenzt fühlten, sondern die Sorgen von Menschen in der vermeintlichen Mitte der Gesellschaft.

Wenn die Schreibgruppe schreibt: Ohne Rücksicht auf Beschlüsse

Doch die November-LDK zeigte, dass diese Auffassung bei den Berliner Grünen (noch) nicht mehrheitsfähig war. Nach einem Jahr harter Programmarbeit sah die LAG optimistisch dem ersten Entwurf des Wahlprogramms entgegen. Hier zeigte sich jedoch, dass in diesem Wahlkampf Teilsein nicht Teilhaben war. Entgegen den klaren Parteitagsbeschlüssen sorgte die demokratisch nicht legitimierte Schreibgruppe dafür, dass die Minderheiten- zur Mehrheitsposition wurde. Und so machte sich die LAG auf den Weg, um im Programmprozess noch einmal für die bereits beschlossenen Inhalte und zumindest gegen Teile des damaligen Landesvorstandes zu kämpfen. Wir erinnern uns ungern an ein erstes Treffen aller LAG-Sprecher_innen, auf dem vor der Veröffentlichung des Entwurfs schon einmal Kritik am Programmtext vorgebracht werden sollte. Nichts von dem, was dort bis spät in die Nacht diskutiert und später in schriftlichen Änderungsvorschlägen formuliert wurde, fand Eingang in den Programmentwurf. Auf den folgenden Antragsteller_innentreffen musste dann jede Stilblüte und jeder Tippfehler erneut korrigiert werden, so dass die Zeit für die eigentliche politische Diskussion fehlte.

Eine Volkspartei muss her: Eine für alle?

Je näher die Programm-LDK im März kam, desto deutlicher wurde jedoch, dass die Parteispitze an einem echten Kompromiss gar kein Interesse hatte. Am Thema Integration sollte deutlich gemacht werden, wofür die neue grüne „Volkspartei“, die zu dieser Zeit vor Kraft kaum laufen konnte, steht. Doch es bedurfte schließlich des Einsatzes der Spitzenkandidatin selbst, um eine wiederholte Blamage der Parteitagsstrategen zu verhindern. Der Änderungsantrag der LAG, der eigentlich die Beschlussvorlage hätte bilden müssen, wurde mit knapper Mehrheit abgelehnt und ein Wahlprogramm beschlossen, in dem Migrant_innen unter anderem mit „Ehrenmorden, Drogenhandel und islamischem Fundamentalismus“ in einem Atemzug genannt wurden.

An der Stadt vorbei: Keine Stadt für alle

Während wir noch darüber grübelten, was damit gemeint war, dass man diese Probleme „mit“ und nicht „gegen“ die Migrant_innen lösen wollte, begann ein Wahlkampf, in dem die Themen der LAG auf Landesebene praktisch nicht vorkamen. Für diese Fehlentscheidung haben wir dann am Wahlabend bezahlt. Die Ergebnisse, die in Neukölln und Kreuzberg erzielt wurden, wo ein eigenständig grüner und somit auch Anti-Sarrazin Wahlkampf gemacht wurde, beweisen, dass es gut gewesen wäre, auf die Stadt zu hören.

Der Autor ist Sprecher der LAG Migration, die Autorin ist Mitglied des Abgeordnetenhauses  des Landes Berlin und Sprecherin der LAG Migration.
Das Geschilderte teilen Ersoy Sengül (KV Kreuzhain), Michael McComisky (LAG Mig), Wolfgang Lenk (KV Kreuzhain), Jenni Winterhagen (LAG Mig), Canan Bayram (MdA), Christiane Howe (LAG Mig), Annette Heppel (KV Neukölln), Caterina Pinto (LAG Frauen), Alexandra Marschner (LAG Mig), Axel Bussmer (LAG DemRecht)