Unpolitische Pali-Tücher - Versuch einer Analyse der Piratenpartei

06.01.12 –

von Oliver Jütting

 (Stachlige Argumente Nr. 184, Winter 2011, online)

Die letzte Wahl hat uns viel beschert, u. a. auch einen neuen Player auf der politischen Bühne Berlins: die Piratenpartei. Die Piratenpartei, ein Zusammenschluss größtenteils junger, männlicher, extrem netzaffiner Menschen erfreut seit den Wahlen die Presse. Und diese Partei beschert uns Grünen eine Diskussion, die wir dringend führen müssen:
Sind, frei nach Peter Glotz, die Piraten das Fleisch vom Fleische der Grünen?

Um es deutlich gleich zu Anfang zu sagen: Nein.
Die Mitglieder der Piraten unterscheiden sich deutlich von uns: Die Piraten (ohne jedes i am Ende) sind eine recht homogene Gruppe, die auch gerne genauso eine homogene Gruppe sein wollen. Es fehlen Frauen, MigrantInnen und Lesben und Schwule, aber mehr noch: Es fehlen die von diesen Gruppen organisierten Strukturen.
Die WählerInnen der Piraten sind nur zum Teil ehemalige GrünenwählerInnen, und wenn solche, die finden, dass wir in den Regierungsbeteiligungen der letzten Jahrzehnte unser radikales Potenzial abgeschliffen haben. Es sind viel eher Menschen, die bisher nicht zur Wahl gegangen sind: Menschen, denen wir, die etablierten Parteien, die deutsche Parteiendemokratie nie haben näher bringen können, haben dieses Mal die Piraten gewählt.
Dennoch haben viele Piraten eine grüne Vorgeschichte, zumindest als Sympathisant. Es scheint eine nur schwer fassbare Verwandtschaft zwischen Piraten und Grünen zu geben. Häufig stürzen sich KommentatorInnen auf das Augenfällige: Die Ähnlichkeit der piratigen (!) Handlungen mit denen der frühen Grünen. Das Ignorieren von Parlamentskleiderordnungen gehört dazu (auch wenn es bei den Piraten dabei erschreckend unpolitisch zugeht), aber vor allem ist es die Haltung, die sich in dem Slogan der Alternativen Liste ausdrückte: „Diesmal wählen wir uns selbst!“

Diese Gemeinsamkeiten verdecken die versteckteren, aber umso fundamentaleren Unterschiede. Denn, so paradox es klingen mag, die Piraten sind auf eine merkwürdige Art und Weise zugleich jünger und älter als die Grünen.
Die Jugend der Piraten ist leicht zu entdecken. Sie besteht neben den oben erwähnten Gesten vor allem aus ihrer Netz- und Technikaffinität. Bündnisgrüne gerade höheren Semesters wirken dagegen einfach alt.
Das Alter der Piraten entdeckt man in ihrer Netzaffinität. Maximilian Probst in der „Zeit“ vom 22. September 2011: „Das Netz der letzten 20 Jahre: Das konnte für einen Piraten Freiheit, glückliche Anarchie, soziales Experiment und jenes Künstlertum des copy and paste bedeuten, das die Einlösung des alten egalitären Versprechens zu sein schien, wir alle seien Künstler.“ Die Piraten stehen mit beiden Beinen im Netz, haben aber ihre Wurzeln 1968: Alle sind Künstler (wozu brauchen wir ein Urheberrecht?), alle sind frei und gleich (wozu brauchen wir eine Frauenquote, wenn doch alle gleich sind?) und alle haben Zugang zu allen Informationen (der hohe Stellenwert der Transparenz!). Die Piraten sind auf krude Art eine Wiederkehr der 68er in Gestalt von Informatikern. Die Wertschätzung des Individuums spiegelt sich in der Betonung der Einbindung der Meinung aller Parteimitglieder durch Liquid Democracy wider. Die Aufbruchstimmung von 68 wird durch den Gestus der Ablehnung des Etablierten deutlich. Aber das Etablierte von heute ist nicht mehr die vermuffte Gesellschaft von 1968. So führt diese Ablehnung des Etablierten zu einer erschreckenden Entpolitisierung der Politik: Transparenz als oberster Wert führt dazu, dass alle über ihre Meinung Auskunft geben, aber nicht dazu, dass sich alle eine Meinung bilden. Es wird interessant sein zu beobachten, wie diese politikfreie Art Politik zu machen sich in der Praxis des AGH und der BVVen bewähren wird. Und: 1968 lag vor der ersten Frauenbewegung. Liegt es auch daran, dass die Piraten eine solch heilige Ehrfurcht vor allen Frauenförderinstrumenten haben?

Und nun? Eine Erdrückung durch Umarmung wird wegen der Unterschiedlichkeit der Parteien nicht funktionieren. Die Strategie kann nur lauten: Spürt die Piraten in ihren Schlupfwinkeln auf! Es wird in der Zukunft noch wichtiger sein als bisher, sich in der Netzpolitik keine Blößen zu geben und auf die gewachsene bündnisgrüne Transparenz hinzuweisen. Den Kampf gegen die Piraten können wir nur auf offener Bühne gewinnen: Fair, engagiert und immer mit einem Finger in ihren Schwächen (und davon gibt es bereits jetzt mehr als genug)!

 Ach, und noch was, liebe Piraten: 2016 wird euer Spitzenkandidat nicht mehr gelost. Wetten, dass?