30.11.24 –
Beschluss auf der Landesdelegiertenkonferenz:
"Im Mittelpunkt unserer Politik steht der Mensch in seiner Würde und Freiheit. Jeder Mensch ist einzigartig und gleich an Würde und Rechten geboren. Die universellen und unteilbaren Menschenrechte sind Anspruch und Maßstab unserer Politik." – so lautet der erste Satz im Bündnisgrünen Grundsatzprogramm.
Der Fakt, dass Rechte für alle gleich gelten, ist ein zentraler Bestandteil einer funktionierenden Demokratie. Die Würde und Freiheit eines jeden Individuums sind eng mit stabiler Rechtsstaatlichkeit und Demokratie verbunden.
Deutschland ist ein Einwanderungsland und das ist auch gut so. Unser Land ist vielfältiger denn je, was zu einer dynamischeren, kreativeren und inklusiveren Gesellschaft führt. Die Grundlage dieser Gesellschaft ist eben die Allgemeingültigkeit ihrer rechtlichen Basis. Diese gibt Sicherheit, fördert den sozialen Zusammenhalt und bereichert das wirtschaftliche sowie kulturelle Leben.
Bündnis 90/Die Grünen setzen sich für eine Politik ein, die die Vielfalt unserer Gesellschaft als Stärke sieht und die Freiheit aller verteidigt. Wir gestalten die Zukunft Deutschlands als eine gerechte, offene und vielfältige Migrationsgesellschaft.
Der Prüfstein dieser Prinzipien besteht darin, wie wir mit unseren schwächsten Mitgliedern umgehen, denjenigen, die nicht für sich lobbyieren können.
Eine funktionierende Rechtsstaatlichkeit schützt die Rechte aller, insbesondere der verletzlichsten Gruppen. Indem wir sicherstellen, dass auch die Schwächsten Zugang zu ihren vollen Rechten haben, auch mittels unabhängiger Beschwerdestellen, unabhängigem Menschenrechts-Monitoring, anwaltlicher und rechtspolitischer Vertretung, sowie human rights budgeting, stärken wir die Gesellschaft und das demokratische System als Ganzes. Wenn wir auf die Bedürfnisse und Rechte derjenigen achten, die am meisten Unterstützung benötigen, fördern wir zudem ein gerechtes und inklusives System für uns alle. Letztlich profitieren wir alle von einer Gesellschaft, die die Würde und Freiheit jedes Individuums respektiert und schützt. Gerade wenn uns der Wind von rechts entgegenbläst, müssen wir zu unseren Werten von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie stehen und für sie kämpfen.
Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine hat die größte Fluchtbewegung in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg ausgelöst. Auch der Konflikt im Nahen Osten hat Millionen Menschen in Israel, Gaza, der Westbank und dem Libanon vertrieben. Menschen fliehen aus Kriegs- und Krisengebieten wie Afghanistan oder Syrien aufgrund von Terror, Krieg oder politischer Verfolgung.
Wir erkennen an, dass erhebliche Herausforderungen bei der Versorgung und Unterbringung von Geflüchteten und in der sozialen Infrastruktur, wie Schulen und Kindergärten, bestehen. Dennoch sind Abschottung, Abschiebung und eine immer schlechtere Behandlung – wie der Ausschluss von Sozialleistungen – nicht der richtige Ansatz, um diese Probleme zu bewältigen.
Ständige, sich überbietende Forderungen nach immer weiteren Asylrechtsverschärfungen lösen die bestehenden Probleme allerdings nicht, sondern verstärken sie. Unsere Demokratie beruht auf unveräußerlichen Grundrechten. Eine Politik der Entrechtung ist in der freiheitlichen Demokratie nicht umsetzbar, die Forderung danach bestärkt rechte Stimmen, anstatt sie zu entwaffnen.
Rechtspopulistische Entrechtungspolitik hält auch verfassungs- und menschenrechtlicher gerichtlicher Kontrolle nicht stand – zumindest nicht im menschenrechtsbasierten politischen System der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Union. Diese institutionelle Dynamik führt in ohnehin krisenhaften Zeiten zu weiteren Vertrauensverlusten der Bürgerinnen und Bürger in die Handlungsfähigkeit von Politik.
Der sich vor unseren Augen abspielende asylpolitische Überbietungswettbewerb spielt Rechtsextremist*innen in die Hände, deren menschenverachtende Deportationsphantasien plötzlich salonfähig werden.
Demokratische Parteien müssen sich bei allen programmatischen Unterschieden klar auf den Boden der Grund- und Menschenrechte stellen und sie gegen rechtsextreme Politik verteidigen. Umso problematischer ist es, wenn die CDU das von der AfD kopierte und klar grundrechtswidrige sogenannte „Ruanda-Modell“ zur faktischen Abschaffung des Grundrechts auf Asyl in Europa sogar in ihr Grundsatzprogramm aufnimmt. Dies ist nur ein Beispiel für die Radikalisierung des Konservatismus, den die Politikwissenschaftlerin Natascha Strobl in ihrem Buch Radikalisierter Konservatismus. Eine Analyse (Berlin: Suhrkamp, 2021) beschrieben und eingeordnet hat.
Darüber hinaus sendet die Politik der Entrechtung fatale Signale in die Migrationsgesellschaft, die uns bereichert und auf die wir angewiesen sind.
Arbeitsverbote sowie fehlende Integrations- und Teilhabeangebote wie Ausbildungsplätze und Beschulung in Aufnahmeeinrichtungen anstatt in Regelschulen, wie es in Berlin passiert, führen zur Isolation von Migrant*innen und verhindern deren aktive Teilnahme an unserer Gesellschaft. Dies ist von niemandes Interesse, da sie so unselbstständig und unmündig gemacht werden, während vom Staat eingesetzte Mechanismen die Verantwortung für das Leben dieser Menschen übernehmen müssen.
Zudem verstärken die Unterbringung in Massenunterkünften und die Ghettoisierung die Entfremdung und Isolation und können zu einer Zunahme von Kriminalität führen. Statt Kriminalität und Extremismus zu bekämpfen, werden sie durch diese Maßnahmen begünstigt.
Eine Einteilung in „nützliche“ Migrant*innen (Arbeitskräften, die bleiben dürfen) und „irreguläre“ Schutzsuchende, die abgeschoben werden sollen, gefährdet unsere freiheitliche Demokratie, spaltet unsere Gesellschaft und macht wirtschaftlich keinen Sinn. Neben der Tatsache, dass selbst bei gut ausgebildeten Menschen oft keine legale Möglichkeit der Einreise besteht, werden hier die Chancen verkannt, die auch diejenigen für unsere Gesellschaft darstellen, die noch zusätzliche Sprachkenntnisse oder Bildungsabschlüsse erwerben müssen.
Die Radikalisierung asylpolitischer Forderungen verstärkt die soziale Ausgrenzung der Schwächsten, führt zu einer weiteren Spaltung der Gesellschaft und spielt antidemokratischen Kräften in die Hände. Letztlich ist es entscheidend, die Würde und Rechte aller Menschen zu achten, um ein gerechtes und inklusives System zu fördern.
Nach dem schrecklichen Messerattentat in Solingen und dem glücklicherweise vereitelten Terroranschlag auf die israelische Botschaft in Berlin haben auch die Berliner SPD und CDU weitere Verschärfungen des Asylrechts gefordert. Diese Art von Symbolpolitik trägt aber nicht zu mehr Sicherheit bei.
Wir lehnen jegliche Generalisierungen und Rassismen gegenüber Geflüchteten, Menschen mit Migrationsgeschichte und muslimisch gelesenen Menschen ab. Die Tat einer Einzelperson lässt in keinster Weise einen Rückschluss auf geflüchtete Menschen, Menschen mit Migrationsgeschichte oder muslimisch gelesene Menschen im Allgemeinen zu. Statt Menschen auf Grund ihrer (vermeintlichen) Herkunft unter Generalverdacht zu stellen und ihre Rechte weiter einzuschränken, sollten bei der Erarbeitung politischer Konsequenzen Hintergründe von Radikalisierung und psychischer Erkrankung identifiziert und ausgewertet werden.
Zunehmende Kürzungen im sozialen Bereich, insbesondere in der psychosozialen Versorgung von geflüchteten Menschen, aber auch die zunehmend desolate Situation in den Wohnheimen, führen zu einer Prekarisierung von psychischen Auffälligkeiten, gleichzeitig fehlt es an Prävention von Radikalisierung. Hinzu kommt, dass das deutsche Asyl- und Migrationssystem, durch einen Mangel an Identifikation von Hilfebedarfen, Personalmangel und menschenunwürdigen Bedingungen in Behörden und Unterkünften, Belastungsfaktoren und Vulnerabilität erhöht, statt Unterstützung zu bieten. Ein System, das Menschen handlungsunfähig macht und in menschenunwürdigen Bedingungen ausharren lässt, verstärkt psychische Belastung und Erkrankung, Wut und Radikalisierung, anstatt diese zu bekämpfen.
Extremismus, insbesondere Islamismus, kann nicht durch Gesetzesverschärfungen wie die Streichung der Grundversorgung von Schutzsuchenden oder durch schnellere Abschiebungen von Familien bekämpft werden. Migrationspolitik im Kontext von Terrorismusbekämpfung zu diskutieren ist ein gravierender politischer Fehler, der Rechtsextremen in die Hände spielt und so unsere freiheitliche Demokratie gefährdet. Vielmehr wird unsere freiheitliche Demokratie dadurch gefährdet und an den Rande des Übergangs zum Autoritarismus geführt.
Geflüchtete unter Generalverdacht zu stellen, immer weiter zu entrechten und für die multiplen Krisen unserer Zeit verantwortlich zu machen, ignoriert die Realität, dass viele dieser Menschen selbst vor Islamismus und Terror fliehen mussten.
Auch der Regierende Bürgermeister hat diese Realität in seinen jüngsten Äußerungen hartnäckig ignoriert.
Wir müssen uns dem entschieden entgegenstellen.
Diese Maßnahmen lösen keine Probleme, sondern machen das Leben vieler Menschen beschwerlicher.
Diese Entwicklung macht unser Land ärmer und ist ein Nährboden für extremistische Parteien wie die AfD, deren falsche, autoritäre und menschenfeindliche Narrative nur gestärkt werden.
Unsere Antwort auf Trumpismus, AfD-Wahlerfolge und die Verschiebung des Diskurses nach rechts muss auf Prävention und demokratischer Teilhabe basieren. Demokratieförderung, Menschenrechts- und Sozialpolitik sind entscheidende Maßnahmen zur Bekämpfung von Extremismus und Rechtspopulismus.
Bündnis 90/Die Grünen stehen für eine Politik, die die Vielfalt unserer Gesellschaft stärkt und die Freiheit aller verteidigt.
Ein herausragendes Beispiel für die konstruktive Gestaltung von Teilhabe in Berlin ist das Gesetz zur Förderung der Partizipation in der Migrationsgesellschaft (PartMigG), das aus einer Initiative des Migrationsrates Berlin hervorgegangen ist und mittlerweile (2021) in einem partizipativen Prozess novelliert wurde. Es schreibt verbindliche Strukturen der Mitbestimmung vor und sichert die Diversitätsentwicklung der Verwaltung. Berlin hat dort – auf Initiative der Grünen - den bundesweit ersten Beirat für die Angelegenheiten der Roma und Sinti gesetzlich verankert. Insgesamt stellt das Gesetz einen bedeutenden Fortschritt in Richtung einer gerechteren und inklusiveren Stadtgesellschaft dar, die die Potenziale aller ihrer Mitglieder erkennt und fördert.
Ein weiteres zukunftsgerichtetes Beispiel für Teilhabe und Mitgestaltung in unserer Migrationsgesellschaft ist die Bundesratsinitiative der Fraktionen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke vom 20. Oktober 2022. Diese Initiative fordert, dass der Senat im Rahmen seiner Kompetenzen darauf hinwirkt, das Wahlrecht für Unionsbürger*innen auf die Landesebene zu erweitern. Zudem soll Drittstaatsangehörigen, die seit mindestens fünf Jahren in Deutschland leben, ebenfalls das Wahlrecht auf Landes- und kommunaler Ebene ermöglicht werden.
Statt in alte reaktionäre Muster zurückzufallen, die unsere Migrationsgesellschaft nicht anerkennen und unsere freiheitliche Demokratie gefährden, sollten wir mutig zukunftsorientierte Projekte vorantreiben. Nur so können wir als Stadtgesellschaft Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Vielfalt leben.
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