Alle nach ihrer Fasson - Für ein selbstbestimmtes Leben in Berlin

17.04.19 – von hannah.koenig –

Beschluss der Landesdelegiertenkonferenz am 06.04.2019

Für viele Menschen ist Berlin das Symbol der Freiheit. Das Bild der weltoffenen Stadt, in der alle nach ihrer Fasson glücklich werden können, hat sich seit Jahrhunderten verfestigt. Trotz oder gerade weil es auch immer wieder historisch lange Phasen gab, die geprägt waren von Unfreiheit, Terror und staatlicher Verfolgung.

Heute, so viele Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und der friedlichen Revolution im Ostteil der Stadt, ist Berlin mehr denn je eine vielfältige Stadt. Ein Sehnsuchtsort für Menschen aus aller Welt. Ob Berliner*innen der 1. bis X-ten Generation, Ein-Eltern-Familien oder Familien mit mehr Eltern, Menschen mit Behinderung oder Menschen ohne Behinderung, Gläubige oder Nichtgläubige, LSBTIQ*, Schwarze Menschen, People of Color, Sintize* und Romnja*, Kinder, Jugendliche und alte Menschen: Sie alle wollen hier nach ihrer Fasson glücklich werden.

Freiheit den Lebensentwürfen - Kampf den unterdrückerischen Strukturen

Für Bündnis 90/Die Grünen Berlin ist es daher ein zentrales Ziel, Berlin als Stadt zu gestalten, in der die unterschiedlichen Lebensentwürfe friedlich und anregend neben- und miteinander bestehen können, ohne sich gegenseitig auszugrenzen. Gelingen kann uns das, wenn wir Zivilcourage zeigen und wenn wir gemeinsam Verantwortung sowohl für das eigene Wohl als auch das der Anderen übernehmen. Wenn wir Lebensentwürfe, die wir nicht gut finden oder sogar ablehnen, aushalten und Diskriminierungen auch dann bekämpfen, wenn sie sich gegen andere richten. Wir sind uns bewusst, dass eine vielfältige und bunte Gesellschaft Konflikte und Auseinandersetzungen mit sich bringt. Diese Kontroversen sind ein Zeichen für das gesellschaftliche Zusammenwachsen in Vielfalt. Deshalb ist es auch wichtig, dass wir sowohl vehement gegen unterdrückerische, ausgrenzende und diskriminierende Strukturen als auch (Denk-) Systeme vorgehen. Um es deutlich zu sagen: Freiheit allen friedlichen Lebensentwürfen, aber Kampf den unterdrückerischen Strukturen.

Wir brauchen klare Position für vielfältige, inklusive, diskriminierungsfreie, antirassistische, feministische empowernde und offene Strukturen, Gesetze und gesellschaftliche Normen. Audre Lorde hat einmal gesagt: „Es sind nicht unsere Unterschiede, die uns trennen. Es ist unsere Unfähigkeit, diese Unterschiede zu erkennen, zu akzeptieren und zu feiern." Wie Audre Lorde schon dafür plädiert hat, so setzen auch wir uns für die Anerkennung und die Wertschätzung von Vielfalt der Lebensentwürfe ein – solange diese Lebensentwürfe nicht selbst unterdrückerisch, Menschen verachtend oder diskriminierend gegen andere sind.

Es geht uns alle an!

Es gibt zwar eine Dominanzgesellschaft, aber das ist keine Mehrheitsgesellschaft, denn die Mehrheit der Menschen gehört in einer oder mehreren Hinsichten einer marginalisierten Gruppe an. Wir wollen das Bewusstsein für die Existenz von Intersektionalitäten und Mehrfachzugehörigkeiten in unserem politischen Handeln verankern und sicherstellen, dass Antidiskriminierung, Gleichberechtigung, Inklusion und Empowerment keine Minderheiten- und keine Nischenpolitik sind, sondern im Kern eines jeden demokratischen Rechtsstaats verankert sein müssen.

Berliner*innen leben eine Vielzahl von Lebensentwürfen. Deshalb ist eine Politik, die sich Artikel 2 („Freie Entfaltung der Persönlichkeit“) des Grundgesetzes verschreibt, keine Politik für eine Nische, keine Politik für gute Zeiten, sondern elementar für die Demokratie und den Zusammenhalt unserer Gesellschaft. Sie wahrt die Menschenwürde, den festgeschriebenen Gleichheitsgrundsatz und die Minderheitenrechte. Sie garantiert gleichberechtigte Teilhabe und ist somit eine Politik für alle, für das Gemeinwohl.

Nur gemeinsam sind wir stark

Für eine gemeinwohlorientierte Solidarität wollen wir sowohl auf staatlicher Seite die Strukturen und Gesetze, als auch die gesamtgesellschaftliche Grundlage schaffen.

Wir wollen eine Gesellschaft, in der Umweltschützer*innen bei rassistischen Übergriffen solidarisch aufschreien und Hanfaktivist*innen für die Rechte von Menschen mit Behinderung protestieren. Nur wenn wir Solidarität und Allianzen untereinander fördern und praktizieren, schaffen wir es, die durch das Grundgesetz garantierte freie Entfaltung der Persönlichkeit auch zu gewährleisten. Dafür brauchen wir – auch staatlich unterstützte – Strukturen, die den Austausch unter den verschiedenen Bewegungen organisieren, solidarische Aktionen fördern und gegenseitiges Lernen vorantreiben.

Dies kann nur gelingen, wenn wir gemeinsam für eine Gemeinwohlsolidarität kämpfen. Die Gemeinwohlsolidarität rückt den sozialen Zusammenhalt und das Gemeinwohl in den Mittelpunkt des gesellschaftlichen Zusammenlebens: Eine soziale, gerechte und friedliche Gesellschaft kann es nur dann geben, wenn jede*r sich in dieser für das gesamte Wohl verantwortlich fühlt und den Raum bekommt, das eigene Leben selbstbestimmt und frei von Demütigungen und Verurteilung zu gestalten. Ohne die Anerkennung des Sozialen als Grundpfeiler unserer Gesellschaft sind wir nicht in der Lage, im umfassenden ökologisch nachhaltigen Wohlstand zu leben.

Grundlagen

Für uns ist es zentral, Armut und soziale Not zu überwinden und allen Menschen das Leben zu ermöglichen, das sie sich wünschen. Deshalb arbeiten wir Grüne mit Nachdruck an arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Lösungen, die nicht vom Misstrauen gegenüber den Menschen geprägt sind. So wollen wir beispielsweise Sanktionen beim ALG II abschaffen und eine Kindergrundsicherung einführen.

Genauso bewusst ist uns: Jenseits dieser materiellen Voraussetzungen gibt es andere Barrieren und Benachteiligungen, die der Verwirklichung von Selbstbestimmung und gleichberechtigter Teilhabe entgegenstehen. Auch hier wollen wir die zentralen Stellschrauben weiterdrehen. Wo wir dabei Handlungsnotwendigkeiten sehen und was wir dabei machen werden, damit wollen wir uns in diesem Antrag beschäftigen.

Berlin ist bunt – schon immer

Als 1961 die ersten Menschen im Zuge des Anwerbeabkommens nach (West-) Berlin gezogen sind, war das Berliner Stadtbild noch vom Krieg gezeichnet. Viele Neu-Ber-liner*innen sind damals aus der Türkei, dem ehemaligen Jugoslawien, Tunesien und Spanien gekommen und haben in baufälligen Wohnungen in Sanierungsgebieten oder in Mauernähe gewohnt – überall da, wo sonst niemand bereit war, Mieten zu zahlen. Sie haben in den Fabriken (bspw. Siemens, Osram) körperliche Schwerstarbeit in unwürdigen Schichtzeiten geleistet – eine Arbeit, die sonst keiner machen wollte, die aber erheblich dazu beigetragen haben, dass die Bundesrepublik Deutschland zu einer weltweiten Wirtschaftsmacht geworden ist. Trotz der widrigen Wohn-, Lebens- und Arbeitsumstände haben sie hier in Eigenregie Wohnungen saniert, Kinder erzogen, Vereine gegründet, Läden aufgemacht, ihr Handwerk angeboten, Kunst geschaffen – alles, um sich und ihrer Familie ein würdiges Leben zu ermöglichen. Die Geschichte dieser Pioniergeneration wird häufig allein innerhalb der Familie von einer Generation in die andere weitergegeben, dabei ist die Geschichte der Aufbaugeneration überall im Berliner Stadtbild sichtbar: Sei es das Urban Krankenhaus oder der Bau der U-Bahnlinie 8, die Bepflanzung von Bäumen an Straßen und in Parks. Das heutige Stadtbild und der wirtschaftliche Aufbau Berlins sind maßgeblich durch die Arbeit und Mühe dieser ersten Generation gekennzeichnet. Im Osten Berlins hatten die Vertragsarbeiter*innen aus Vietnam und Mozambique keine Möglichkeit, sich viel Eigenes aufzubauen: Aber auch sie haben mit ihrer Arbeit und den wenigen Kontakten, die zu den Berliner*innen möglich waren, die Stadt bereichert – und tun es bis heute.

Diese Leerstelle in der kollektiven Erinnerung ist ein Beispiel von vielen. Zu den Grundlagen einer freien Entfaltung der Persönlichkeit gehört aber auch die Sichtbarkeit der eigenen Lebensrealität im öffentlichen Diskurs. Daher fordern wir, dass sich die Diversität der Stadtgesellschaft stärker als bisher in der Erinnerungskultur und in der Arbeit der Berliner Kultur-und Bildungseinrichtungen widerspiegelt. Das gilt insbesondere für Intendanzen, Aufsichtsgremien und andere Leitungsfunktionen, aber auch bei ganzen Ensembles und ihren Spielplänen. Ähnlich verhält es sich in der kulturellen Projektförderung, in der die künstlerische Arbeit von, für und mit Menschen mit Migrationsgeschichte, POC und Schwarze Menschen hinter ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung zurückbleibt. Das wollen wir ändern, indem wir gezielte Anreize für die Diversitätsentwicklung öffentlicher Kultureinrichtungen schaffen, wie es etwa New York mit seinem „Cultural Plan“ vormacht. Dazu gehört auch die Einrichtung eines Diversitätsfonds, wie er im Koalitionsvertrag vereinbart, aber bislang nicht umgesetzt wurde. Lange Zeit wurde die deutsche Kolonialvergangenheit, ihre Verbrechen und langfristigen Folgen ignoriert, verschwiegen und ausgeblendet. Das beginnt sich gerade zu ändern, auch dank der Debatten über die Restitution von Artefakten und menschlichen Gebeinen aus kolonialen Unrechtskontexten, die sich immer noch zu zig Tausenden in musealen Sammlungen und Depots hierzulande befinden. Wir unterstützen Forderungen nach deren Rückgabe an die Herkunftsgesellschaften – und die Beweislastumkehr zugunsten der Nachfahren und Rechtsnachfolger in den ehemaligen deutschen Kolonien. Wir fordern deshalb die komplette Offenlegung fraglicher Museumsbestände und eine systematische Erforschung von deren Herkunfts- und Besitzgeschichte (Provenienz). Wir wollen, dass Berlin vorangeht, etwa indem wir endlich die rechtlichen Voraussetzungen für die Restitution von Kulturgütern in der Landeshaushaltsordnung schaffen. Eine postkoloniale Erinnerungskultur, die ihren Namen verdient, umfasst allerdings sehr viel mehr, als die Rückgabe einzelner Objekte an ihre rechtmäßigen Besitzer*innen. Wir wollen eine echte Dekolonisierung Berlins im Sinne eines umfassenden, gesamtstädtischen Erinnerungskonzepts. Dazu gehört zuvörderst der Dialog mit den Nachfahren der Kolonisierten im Sinne einer geteilten, gemeinsamen Geschichte, aber auch mit den zahlreichen zivilgesellschaftlichen Organisationen und Initiativen in unserer Stadt, die aktiv sind. Die postkoloniale Aufarbeitung und Erinnerungsarbeit muss neben dem Kulturbereich die Themen Wissenschaft und schulische Bildung, Städtepartnerschaften und internationale Verantwortung, den Umgang mit dem öffentlichen Raum (etwa im Zusammenhang mit Straßenumbenennungen), oder Diskriminierung und Rassismus in unserer heutigen Gesellschaft als Nachwirkungen des Kolonialismus umfassen. Auch deshalb setzen wir uns für eine zentrale Gedenkstätte an die Opfer der deutschen Kolonialverbrechen und einen entsprechenden Bildungsort in Berlin ein.

Nicht erst jetzt sind viele Menschen nach Berlin geflohen und emigriert. Die Geschichte von Berlin zeigt, dass Menschen mit Migrationsgeschichte die Stadt auch in Vergangenheit geprägt und bereichert haben. Aber das Jahr 2015 hat vieles in Bewegung gebracht: Bundesweit – und auch in Berlin – hat es die Forderung nach sozialem Wohnungsbau wieder in den politischen Fokus gerückt und uns zum Handeln gezwungen. Aber auch die Verwaltung hat sich ein Stück weit geöffnet, es gibt verbindliche Kooperation mit der Zivilgesellschaft, es gibt mehrsprachige Informationen und immer öfter auch mehrsprachige Mitarbeiter*innen. Die gesellschaftliche Teilhabe der Geflüchteten ist eine Chance auf Innovationen für unsere Stadt. Innovationen, die Berlin als internationale Metropole dringend braucht.

Wir fangen nicht bei Null an

Die rot-rot-grüne Landesregierung ist mit dem Anspruch angetreten, die individuelle Selbstbestimmung zu stärken, Diskriminierungen in allen Bereichen der Stadtgesellschaft entgegenzutreten sowie die bestehenden Einrichtungen/Instrumente und Maßnahmen zur Prävention und Sanktion von Diskriminierungen auszubauen und – wo notwendig – zu erweitern. Dabei kommt unserer Senatsverwaltung für Justiz, Verbraucherschutz und Antidiskriminierung eine Schlüsselrolle zu. Berlin hat ein vielfältiges Beratungsangebot, das von zivilgesellschaftlichen Organisationen getragen wird und Berliner*innen im Falle von Diskriminierung unterstützt. Wir haben die Beschwerde-strukturen systematisch verstärkt sowie neue Handlungsfelder aufgebaut. Beispielsweise haben wir eine Fachstelle gegen Diskriminierung auf dem Wohnungsmarkt eingerichtet, die vor dem Hintergrund des umkämpften Mietenmarkts gerade diejenigen unterstützen soll, die bei der Wohnungssuche systematisch diskriminiert werden. Des Weiteren haben wir uns dafür eingesetzt, dass sich das Land Berlin im Rahmen der „UN-Dekade für Menschen afrikanischer Herkunft“ auf den Weg macht, gezielt Anti-Schwar-zen Rassismus zu bekämpfen sowie bestehende Community-Strukturen für Schwarze Berliner*innen zu stärken. Mit der Roma-Community haben wir eine Selbstvertretung erarbeitet, die gesetzlich verankert werden wird. Die “Initiative geschlechtliche und sexuelle Vielfalt” wurde von uns in einem umfassenden Community-Prozess neu gestartet, um Homo- und Trans-Feindlichkeit in unserer Stadt weiter zurückzudrängen, LSBTIQ* zu empowern und für Akzeptanz in der gesamten Stadtgesellschaft zu werben. Mit einem Maßnahmenplan “Gegen jeden Antisemitismus!” wird Berlin künftig noch entschlossener und gezielter gegen antisemitische Einstellungen und Taten vorgehen. Viele weitere Maßnahmen haben wir angeschoben und umgesetzt. Uns ist aber auch klar, dass noch vieles zu tun bleibt, um unserem Ziel näher zu kommen: allen Berliner*innen Chancengleichheit zu garantieren und einen diskriminierungsfreien, selbstbestimmten Zugang zum öffentlichen, politischen und kulturellen Leben zu ermöglichen.

Teilhabe ermöglichen - Inklusion gestalten

Wir wollen eine inklusive Gesellschaft bauen, in der alle Menschen ein Recht auf Teilhabe in allen gesellschaftlichen Teilbereichen haben und Konflikte auf Augenhöhe miteinander aushandeln. Es ist Aufgabe der Politik, strukturelle und materielle Hürden und Diskriminierung aus dem Weg zu räumen, die eine solche gleichberechtigte Teilhabe verhindern. Diese Politik umfasst u.a. Wahlrecht, Wohnen und den Zugang zum Arbeitsmarkt.

Vor kurzem hat das Verfassungsgericht klargestellt: Menschen mit Beeinträchtigungen dürfen nicht einfach vom Wahlrecht ausgeschlossen werden. Sie sind Teil der Gesellschaft, wie alle anderen auch. Das ist ein weiterer Schritt voran in Richtung inklusiver Gesellschaft, wie die UN-Behindertenrechtskonvention sie fordert. Wir sind in Berlin in der rot-rot-grünen Koalition beim inklusiven Wahlrecht bereits vorangegangen. Ein weiterer Schritt muss endlich das Wahlrecht für alle auf der kommunalen und auf der Landesebene sein. Denn unabhängig davon, woher sie selbst oder ihre Eltern kommen und wie lange sie schon hier leben: Alle Berliner*innen sind #vonhier und haben das Recht auf politische Mitbestimmung.

Inklusives Leben muss überall in unserer Stadt gelebt werden und wir stellen uns der Verdrängung aus den Kiezen mit aller Kraft entgegen. Wir wollen keine Unterkünfte nur für Geflüchtete bauen, sondern wollen gemeinsames Wohnen von Anfang an ermöglichen. Und aus demselben Grund müssen Menschen mit Behinderungen selbstbestimmt über Ort und Art des inklusiven Wohnens entscheiden können und die individuelle Unterstützung erhalten, die sie brauchen und wollen, egal ob Apartment, Wohngemeinschaft oder Wohngruppen.

Wir wollen auch zum Arbeitsmarkt einen inklusiven Zugang und ein faires, diskriminierungsfreies Bewerbungsverfahren.

Dazu gehören beispielsweise digitale Lösungen für anonyme Bewerbungen: So können jeweils die Merkmale ausgeblendet werden, die ein faires, diskriminierungsfreies Bewerbungsverfahren verhindern: Das kann die Namens- und Altersangabe sein, sowie Angaben, die Hinweise auf eine Beeinträchtigung geben. In jedem Fall muss die Abbildung der Person entfallen, da ein Foto Annahmen hinsichtlich fast aller im AGG genannten Diskriminierungsmerkmale ermöglicht und weitere Diskriminierungsformen, wie beispielsweise Gewichtsdiskriminierung, hier wirksam sind.

Für geflüchtete Menschen ist der Zugang zum Arbeitsmarkt noch immer vom Aufenthaltsstatus abhängig. Das ist alles andere als fair. Deshalb haben wir auf Bundesebene ein eigenes Einwanderungsgesetz als Alternative zu den Gesetzentwürfen der Bundesregierung vorgelegt. Wir wollen eine Bleiberechtsregelung für afghanische Geflüchtete und andere Menschen, die schon lange mit Duldung in Deutschland leben. Und da der Bund den dringend nötigen Spurwechsel für Menschen, die hier arbeiten oder sich ausbilden wollen, nicht zustande bringt, arbeiten wir an einem Berliner Spurwechsel. Denn wir wollen allen Menschen, die nach Berlin kommen ein selbstbestimmtes Leben ermöglichen und sie in der Entfaltung ihrer Persönlichkeit unterstützen.

Alle haben Schutz verdient

Für Bündnis 90/Die Grünen ist im Kontext sicherheitspolitischer Debatten und Maßnah-men der Schutz und Ausbau der Bürger*innen- und Freiheitsrechte ein zentrales Ziel. Wir wollen die Berliner Polizeibehörde nicht nur durch eine bessere Ausstattung und angemessene Arbeitsbedingung stärken, sondern insbesondere Maßnahmen ergreifen, die helfen, das Vertrauen der Bürger*innen in die Behörde auszubauen, da so Konflikte zwischen Bürger*innen und Polizei effektiv verringert werden können. Wir setzen uns für eine bürger*innennahe Polizei ein, die den Schutz der Grundrechte aller Menschen sicherstellt und gleichzeitig offen mit eigenem Fehlverhalten umgeht.

Es kommt immer wieder vor, dass polizeiliche und ordnungsamtliche Kontrollen nicht aufgrund von Verdachtsmomenten erfolgen, sondern überwiegend aufgrund bestimmter körperlicher Merkmale einer Person – wie etwa der Hautfarbe – (Racial Profiling). Besonders häufig sind hiervon People of Colour (PoC), Romnja*, türkei- und arabischstämmige Menschen (bzw. die, die diese Zuschreibungen erfahren) betroffen. Diese Praxis verstößt gegen das Grundgesetz, wie bereits mehrfach obergerichtlich festgestellt wurde.

Daher fordern Bündnis 90/Die Grünen, dass im Allgemeinen Sicherheits- und Ordnungsgesetz (ASOG) ein ausdrückliches Verbot von „Racial Profiling“ verankert wird. Anlasslose Grundrechtseingriffe und verdachtsunabhängige Kontrollen durch die Polizei lehnen wir ab, da diese Tür und Tor für Maßnahmen öffnen, die von Vorurteilen geprägt sind. Außerdem fordern wir ein Recht der Bürger*innen direkt nach polizeilichen Kontrollen eine Bescheinigung über die Kontrollen zu fordern, in denen Ort, Zeit und der Grund der Kontrolle sowie Dienstnummer der durchführenden Beamt*innen festgehalten ist. Eine solche „Quittung“ hat sich in vielen Ländern als wirksames Mittel gegen Racial Profiling erwiesen. Außerdem ist es erforderlich, dass bei der Berliner Polizei eine Diversity-Gesamtstrategie ausgearbeitet und implementiert wird. Ein wesentlicher Teil davon muss die Stärkung der Aus-, Fort- und Weiterbildung für den mittleren, gehobenen und höheren Vollzugsdienst in den Bereichen Diversity und Antidiskriminierung sein. Die Teilnahme für Mitarbeiter*innen der Leitungsebenen ist verpflichtend auszugestalten. Dazu gehört auch die Einführung eines “Community-Policing”-Konzepts zur Zusammenarbeit und Vertrauensbildung der Berliner Polizei mit insbesondere von Rassismus betroffenen Communities.

Schließlich fordern wir die Einführung einer unabhängigen Beschwerdestelle, die bei der*dem künftigen Polizeibeauftragten des Landes Berlin angesiedelt ist, an die sich Bürger*innen im Falle von Diskriminierungen wenden können. Sie soll auch die polizeilichen Handlungsanweisungen, Geschäftsprozesse, Abläufe und Praxen im Hinblick auf strukturelle Diskriminierung auswerten.

Institutionellen Rassismus erkennen und abbauen

Noch immer produzieren gesellschaftliche Institutionen Ausschlüsse, sei es die Polizei, Schule, die Berliner Verwaltung oder die Jobcenter. Wer dies anspricht, stößt dabei in der Regel auf enorme Abwehr und Widerstand. Institutioneller Rassismus und strukturelle Diskriminierung werden oftmals heruntergespielt oder schlichtweg geleugnet. Dabei ist die Fakten- und Studienlage klar: Schüler*innen mit einem “nicht deutsch” klingenden Namen erhalten bei gleicher Leistung schlechtere Noten und seltener eine Gymnasialempfehlung. Musliminnen mit Kopftuch bleibt der gleichberechtigte Zugang zu Ausbildung und Arbeitsmarkt verwehrt. Trans* Personen sind überdurchschnittlich oft von Arbeitslosigkeit und finanzieller Armut betroffen. Und in der Berliner Verwaltung kommt nur eine verschwindend geringe Minderheit der Mitarbeiter*innen of Color in den Leitungsebenen an; ganz zu schweigen davon, dass unter den Mitarbeitenden der Anteil von Menschen, die von Rassismus betroffen sind, kaum repräsentiert ist. Wir Grüne wollen das nicht länger hinnehmen. Fakt ist: Rassismus kommt in allen gesellschaftlichen Bereichen vor. Statt institutionellen Rassismus kleinzureden, verlangen wir daher umgekehrt eine Professionalisierung im Umgang mit ihm: Institutioneller Rassismus muss konsequent identifiziert und abgebaut werden. Dafür müssen diskriminierungskritische und diversitätssensible Organisationsentwicklungen und Organisationsuntersuchungen zum Einsatz kommen und von Leitungspersonen getragen werden. Staatliche Einrichtungen müssen sich konsequent für die Diversität der Stadtgesellschaft öffnen.

Mit dem künftigen Landesantidiskriminierungsgesetz (LADG) sollen die öffentlichen Einrichtungen des Landes Berlin bei der Förderung einer Kultur der Wertschätzung von Vielfalt eine Vorbildfunktion erhalten. Diversity-Maßnahmen sollen darauf zielen, Diskriminierungen abzubauen bzw. zu verhindern und Chancengerechtigkeit zu fördern. Dies kann nur gelingen, wenn auch Strukturen in den Blick genommen werden, die beispielsweise zur Unterrepräsentanz von bestimmten Gruppen – gerade auf Leitungsebene oder bei der Ausrichtung von Angeboten – führen. Nur auf diese Weise lässt sich institutioneller Rassismus wirksam abbauen. Dabei stehen die Führungskräfte in besonderer Verantwortung. Maßnahmen zur Steigerung der Diversity-Kompetenzen müssen daher in der Breite verankert werden. Dazu gehört auch, Formen von Vielfalt mitzudenken und zu kommunizieren, die bisher noch keine Betrachtung finden, wie beispielsweise Gewichtsvielfalt. Hier ist noch ein weiter Weg zu gehen – in dieser Legislaturperiode wollen wir aber die entscheidenden Weichen stellen!

Berlin hat zwar 2010 das bundesweit erste Partizipations- und Integrationsgesetz verabschiedet, doch die letzten Jahre haben gezeigt, dass dieses Gesetz nicht zur gleichberechtigten Teilhabe beitragen kann. Wir wollen uns bei der anstehenden Gesetzesnovellierung dafür einsetzen, dass sich die Novellierung an dem Gleichstellungsgedanken des Berliner Landesgleichstellungsgesetzes (LGG) orientiert. Es geht nicht um Integration, sondern im Sinne eines kollektiven Nachteilsausgleichs darum, Gruppen, die strukturell diskriminiert werden, mit privilegierten Gruppen gleichzustellen. Wir halten zudem daran fest: Der Begriff der „Rasse“ muss endlich aus Artikel 10 der Berliner Landesverfassung und weiteren landesrechtlichen Regelungen gestrichen und zugunsten eines Schutzes vor Diskriminierung aufgrund rassistischer Zuschreibung ersetzt werden.

Strukturen dauerhaft verändern

Eine moderne Antidiskriminierungsarbeit braucht flächendeckende, langfristige und nachhaltige Finanzierung. Denn oft sind gerade sie es die Innovation und nachhaltige Effekte in der Förderlandschaft initiieren. Wir wollen ‒ dem Subsidiaritätsprinzip folgend ‒ eine Förderung von Organisationen der Zivilgesellschaft mit öffentlichen Mitteln, insbesondere von Migrant*innenselbstorganisationen und Neuen Deutschen Organisationen, denn wir sehen, dass die Feststellung von Problemen und Bedarfen in diesen Organisationen schneller und fachgerechter geschieht als in Politik und Verwaltung. Projekte gegen Diskriminierung, als Unterstützung für den Einstieg ins Berufsleben oder für Menschen, die von häuslicher Gewalt betroffen sind, sind auf zuverlässige und langfristige Förderung angewiesen. Wo immer möglich sollte von der Projektförderung auf Leistungsverträge umgestellt werden. Die Vergabe öffentlicher Aufträge ist seit vielen Jahren an ökologische, soziale und Kriterien der Frauenförderung gekoppelt. Wir werden daran selbstverständlich auch bei der aktuellen Neufassung des Berliner Vergabegesetzes festhalten. Gleichbehandlung und der Abbau von Diskriminierungen ist auch bei der Verwendung staatlicher Mittel erforderlich. Wer öffentliches Geld verwendet, darf nicht diskriminieren. Die Einhaltung des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) und entsprechend weiterer gesetzlicher Vorgaben sowie der damit verbundene Schutz der Beschäftigten vor Benachteiligung aufgrund des Geschlechts, der Religion, einer Behinderung, des Alters, usw. ist deswegen zukünftig vor der Vergabe schriftlich zu vereinbaren.

Neben den Förderkriterien müssen wir auch alle anderen Strukturen dauerhaft verändern. Ein einziges Diversitäts-Seminar reicht dabei nicht aus. Wir haben hier die Frauenbewegung und die vielfältigen Maßnahmen zur Gleichstellung der Geschlechter zum Vorbild. Wir brauchen daher überall Diversitäts-Beauftragte, Diversitäts-Räte und Gremien, die sich dauerhaft und strukturell mit diesem Thema befassen. Ein Mittel, die Perspektive, Erfahrungen und das Fachwissen der Zivilgesellschaft einzubeziehen, sind Beiräte, deren Strukturen so gesetzt sind, dass sie tatsächliche Mitsprache erhalten und keine zahnlosen Verwaltungstiger sind. Für die ehrenamtliche Mitarbeit in den Beiräten muss es eine angemessene Aufwandsentschädigung geben.

Wir Grüne wollen, dass die Stimmen von Kindern und Jugendlichen gehört werden, in Politik und Gesellschaft. Dazu müssen Kinder und Jugendliche an Entscheidungen beteiligt werden, und zwar nicht nur bei Themen wie Spielplatzbau, sondern bei allen wichtigen politischen und gesellschaftlichen Themen, auch bei der Stadtentwicklung und beim Verkehr. Jugendpartizipation ist wichtig. Wir wollen niedrigschwellige Angebote und Beteiligungsformate, die Kindern und Jugendlichen Lust darauf machen, sich einzubringen. Wir unterstützen die Kinder- und Jugendparlamente, die es schon in einigen Bezirken gibt, daneben aber auch die Einrichtung von Kinder- und Jugendbüros in den Bezirken und die Jugendarbeit in Stadteilzentren, Jugendclubs und an den Schulen. Kinder und Jugendliche in Berlin wollen mitmischen, die Politik muss dafür Räume eröffnen – und zwar auch dann, wenn Kinder und Jugendliche ganz andere Vorstellungen haben als Erwachsene und deren Welt auf den Kopf stellen.

Das kommende Landesantidiskriminierungsgesetz (LADG) ist für eine dauerhafte, strukturelle Veränderung von großer Bedeutung. Es wird bestehende Regelungslücken des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) auf Bundesebene endlich für Berlin schließen. Denn zum ersten Mal wird damit auch anerkannt, dass der Staat nicht nur bei der Antidiskriminierungsarbeit eine wichtige Rolle spielt, indem er zivilgesellschaftliche Projekte im Kampf gegen Diskriminierung, bei Beratung- und Empowermentarbeit unterstützt, sondern dass der Staat mit seinen Verwaltungen und Behörden selbst auch ein potentiell diskriminierender Akteur ist. Das LADG wird hier endlich eine rechtliche Handhabe ermöglichen. Von staatlicher Ungleichbehandlung Betroffene können zukünftig einen Ersatz für den entstandenen Schaden und eine Entschädigung vor Gericht geltend machen.

Mit dem LADG wird Berlin bundesweit eine Vorreiter*innenrolle einnehmen und Druck für eine Reform des AGG aufbauen. Denn dank grüner Initiative wird es antidiskriminierungsrechtliche Innovationen wie einen erweiterten Merkmalskatalog und ein Verbandsklagerecht einführen. Im Rahmen der „UN-Dekade für Menschen afrikanischer Herkunft“ hat unsere grüne Senatsverwaltung für Antidiskriminierung einen umfassenden Konsultationsprozess durchgeführt. Dessen Ergebnisse sollen nun in einen ressortübergreifenden Aktionsplan für die Teilhabe Schwarzer Menschen und gegen Anti-Schwarzen Rassismus münden. Berlin wäre damit deutschlandweit Vorreiterin. Dabei wollen wir auch Community-Strukturen dauerhaft und gezielt stärken, dies könnten eine empowernde Familien- und Jugendberatung für und von Schwarzen Menschen sowie ein Schwarzes Communityzentrum sein.

 

 

Don´t shoot the messenger

Wir brauchen eine (Debatten) Kultur, in der das Ansprechen von Problemen gewürdigt und nicht gemaßregelt oder relativiert wird. Wir brauchen eine Kultur, in der Institutionen, Firmen oder Verbände, die Rassismus oder Diskriminierungen in ihren Strukturen benennen eine Anerkennung erfahren. Das Problem sind nicht diejenigen, die Rassismus und Diskriminierung in ihren Reihen aufarbeiten, sondern jene, die leugnen, dass es Rassismus gibt. Partei zu ergreifen für die Interessen einer Gruppe, die mit einer anderen im Konflikt steht, bedeutet nie ein Parteiergreifen für die eine Gruppe gegen die Andere, sondern ein Einstehen für die Werte und Überzeugungen der Grünen Partei.

Bei den Kleinen fängt es an

Bereits in ihrer Kindheit und Jugend machen Berliner*innen Diskriminierungserfahrungen. Das haben im vergangenen Jahr sowohl die #MeTwo-Debatte als auch Berichte über Vorfälle an Berliner Schulen noch einmal eindrücklich dargelegt. Es ist zudem deutlich geworden, dass die Diskriminierung in vielen Fällen auch vom Lehrpersonal ausgeht. Bereits in frühen Jahren müssen also Kinder, die sich in unseren Bildungseinrichtungen in einem Abhängigkeitsverhältnis befinden, rassistische, sexistische, den dicken Körper stigmatisierende oder behindertenfeindliche Zuschreibungen ertragen. Dadurch werden gesellschaftliche Ausschlussmechanismen fortgeschrieben, die unserem demokratischen Gemeinwesen als Ganzes schaden.

Diesem bedenklichen Zustand muss etwas entgegengestellt werden. Empörung über vermeintliche Einzelfälle reicht nicht aus. Wir fordern eine Gesamtstrategie gegen Diskriminierungen an Berliner Schulen. Berliner Schüler*innen haben ein Recht auf diskriminierungskritische Bildung! An Berliner Schulen braucht es einen nachhaltigen, strukturellen und präventiven Umgang mit Diskriminierung. Es gibt Schutz- und Beratungslücken, die wir schließen wollen. Es kann nicht sein, dass die Opfer von Diskriminierung die Schule wechseln müssen, diskriminierendes Lehrpersonal aber nicht sanktioniert wird und sich an den diskriminierenden Strukturen und Praxen nichts ändert. Eine diskriminierungssensible Schulkultur ist eine zentrale Aufgabe von Leitungspersonal und Schulentwicklung.

Nachdem auf grüne Initiative hin bereits ein aktives Diskriminierungsverbot im Berliner Schulgesetz verankert wurde, fordern wir nun einen umfassenden Diskriminierungsschutz an Berliner Schulen, der den Betroffenen eine transparente Beschwerde- und Interventionsstruktur sowie ihnen verbindliche Präventions-, Informations-, Beratungs- und Empowermentangebote zur Verfügung stellt. Opfer von Diskriminierung dürfen nicht allein gelassen werden. Bei Diskriminierungsfällen braucht es eine klare Interventionskette. Dazu gehört es, dass es an jeder Schule eine qualifizierte Ansprechperson gibt, die Betroffene berät und alle gemeldeten Diskriminierungsfälle aufklärt sowie diese gegenüber der zuständigen Schulaufsicht und der Antidiskriminierungsbeauftragten der Senatsbildungsverwaltung berichtet. Alle Schulen sollen in einem partizipativen Prozess eine Antidiskriminierungsstrategie erarbeiten. Wir werden den Schulleitungen zur Entlastung externe Organisationsentwickler*innen zur Seite stellen. Und wir wollen, dass Berlin eine unabhängige Beschwerdestelle für Diskriminierung an Schulen einrichtet.

Zu den schulischen Strategien gegen Diskriminierung gehört zudem die Förderung der Wertschätzung von Vielfalt. Dazu braucht es Wissensvermittlung über unterschiedliche Diskriminierungsformen und die Vermittlung von Diversitykompetenzen. Die kontinuierliche und verpflichtende pädagogische Aus-, Fort- und Weiterbildung im Bereich Antidiskriminierung, Intersektionalität und Diversitykompetenz soll verankert und verstärkt und mindestens für alle Lehrkräfte und das Leitungspersonal obligatorisch werden. Die Inhalte müssen sich dabei am realen Bedarf der Schulen orientieren und dürfen nicht auf die durch das AGG adressierten Formen von Diskriminierung begrenzt sein. Gewichtsdiskriminierung kommt an Schulen beispielsweise äußerst häufig vor, doch bisher gibt es hier keinen gesetzlichen Diskriminierungsschutz. Auch das Schulmaterial ist im Hinblick auf diskriminierungskritische, wissenschaftlich geprüfte Standards zu überarbeiten bzw. zu erstellen und auszuwählen. Nach dem Vorbild der Fachstelle für Queere Bildung
fordern wir zur Unterstützung die Einrichtung einer Fachstelle für Intersektionale Bildung.

Selbstbestimmt im digitalen Leben

Das Internet ist nicht nur erweiterter Lebensraum für uns Menschen, sondern auch Austragungsort handfester wirtschaftlicher und politischer Interessen. Hasskommentare und Propaganda, Zensur und Fake-news, Tracker und intransparente Datenabschöpfung schränken die individuelle Freiheit ein und gefährden den demokratischen Grundkonsens. Algorithmen, KI und Social Bots prägen und beeinflussen Meinungsbilder. Ein gerechtes Netz bedeutet für uns auch, jede und jeden ausreichend und sinnvoll zum Beispiel vor Beleidigungen oder Desinformationen durch Lügen zu schützen.

Wir erachten kreative Ausdrucksweisen und den freien Austausch in neuartigen Formen an sich für schützenswert. Wir verteidigen die Rechte der Bürger*innen, wir treten ein für Datenschutz und Netzfreiheit. Alle User*innen haben die Hoheit über ihre Daten und benötigen dazu Transparenz und Klarheit. Darauf und insbesondere die Rechte von Minderjährigen werden wir auch in Berlin bspw. bei der Einführung der elektronischen Akte achten und wollen die Serviceangebote der Verwaltung umfassend erweitern.

Zeitgemäße schulische Bildung und Jugendarbeit, die mündige und selbstbestimmte Bürger*innen im digitalen Zeitalter als ein zentrales Bildungsziel ansieht, bedeutet für uns mehr als das Schreiben von Quellcodes und das Whiteboard als Tafelersatz. Sie behandelt die Chancen internationaler Freundschaften, schneller Faktenchecks und datensicherer Messengerdienste ebenso wie die Risiken von Cybermobbing, Manipulation und Desinformation. Zeitgemäß ist für uns auch die Vereinsarbeit im eSport, die im regionalen wie weltweiten sportlichen Wettstreit Daten- und Jugendschutz achtet. Selbstbestimmtes Leben endet nicht an den Toren des www.

Es braucht Raum um selbstbestimmt Leben zu können

Was für uns heute selbstverständlich ist, musste früher hart erkämpft werden. Das vergessen wir nicht. Gerade Menschen mit schwul-lesbischen oder migrantischen Identitäten haben oft erst in den Berliner Freiräumen - teils in der Illegalität - Freiheit und Respekt erfahren. Viele junge Menschen erfahren in Jugendclubs das erste Mal Anerkennung und Empowerment die sie zu selbstbewussten Bürger*innen machen. In unserer Gesellschaft müssen gewonnen Freiheiten verteidigt werden aber auch weiterhin für mehr Anerkennung und Recht für alle gekämpft werden. Auch deshalb gehören die existierenden und die zu erobernden Freiräume Berlins zur einzigartigen Kultur unserer Stadt und ihr Erhalt muss mehr politische Priorität bekommen.

Selbstbestimmt zu leben bedeutet nicht nur, das tun zu können was man will, sondern auch einen Raum, einen Ort und eine Gegend zu haben, in der man sich frei entfalten kann; wo keine Marginalisierung stattfindet und auch Teilhabe ermöglicht wird. Dies beinhaltet Wohnprojekte für lesbische oder migrantische Communities, genügend zentrale Flächen und Büroräume für Initiativen und Verbände in der Stadt, Orte zum Feiern und Orte zum Erholen, genauso wie Platz für alternative Wohnentwürfe, wie Flöße auf dem Wasser oder Wagenburgen auf dem Land. Wir setzen bei öffentlichen Neubauten wie im Wohnungsbau auf inklusive und zugleich familien- und generationengerechte Modelle, die flexibel und vielfältig nutzbar sind. Auch in einer sich zunehmend verdichtenden Stadt ist es entscheidend, dass diese Orte geschützt und zusätzliche geschaffen werden – denn Menschen brauchen ein Dach über dem Kopf, sie brauchen aber auch Orte und Gegenden, in denen sie sich entfalten und leben können. Seien es Grünflächen, soziale Einrichtungen, Spielplätze, Partylocations oder Begegnungszonen – diese Orte, die meist kostenlos nutzbar sind, sind gerade für Menschen, die sich privat nicht viel Platz zum Leben leisten können ein elementarer Ort der Erholung und der Selbstverwirklichung. Dabei gilt es immer, den Interessensaustausch auch zu wahren: Wir wollen, dass es in Berlin sowohl möglich ist, die Nacht durch zu feiern, als auch zu schlafen. Bündnis 90/Die Grünen tritt daher dafür ein, die Räume die es jetzt schon gibt zu schützen, bei Planung von neuen Quartieren auch genug Frei- und sozial nutzbaren Raum zu schaffen, sowie durch Entsiegelung und Umwidmung, gerade von Parkplätzen, weiteren Raum zu gewinnen. Die Schaffung eines lesbischen Wohnprojektes hat dafür für uns zentrale Bedeutung.

Um auf Dauer eine gute Planung zu gewährleisten, fordern wir ein öffentliches Flächenkataster, das eine faire Übersicht des Status quo ermöglicht und auch die städtischen Betriebsflächen mit einbezieht. Dies würde die Entscheidungen der Behörden um ein Vielfaches transparenter und damit nachvollziehbarer für alle Bewerber*innen machen. Auch bei Nichtbedarf an öffentlicher Infrastruktur müssen Grundstücke und Bauten zudem dauerhaft im Eigentum des Landes Berlin bleiben.

Wir wollen auch das Kleingewerbe in der Stadt schützen. Sei es ein Bäcker, der Schusterladen, die Bibliothek, ein*e Klempner*in oder ein Fahrradgeschäft, diese kleinen Läden sind wichtig, damit ein gutes Leben im Kiez möglich ist und Gegenstände auch günstig repariert werden können. Wenn die Anfahrt der*s Handwerker*in, weil sie*er eben nicht mehr in der Nähe ihr Geschäft hat, mehr kostet als eine Neuanschaffung ist dies auch aus ökologischer Sicht ein Desaster. Daher muss auch bei zunehmender Verdrängung eine Grundversorgung der wichtigsten Dienste im Kiez ermöglicht werden. Ein Schutz der Gewerbemieten ist daher unumgänglich und für ein gutes Leben elementar.

Selbstbestimmte Kreativ- und Kulturräume verteidigen und neu schaffen!

Was Berlin als Stadt ausmacht, sind auch ihre kreativen und Freiräume. Doch die sind in Gefahr, sei es durch explodierende Gewerbemieten, sei es durch eine Überbebauung von Freiflächen, bei denen Kommerz vor Kultur geht. Ob Potse/Drugstore, das Lichtenberger Rockhaus oder die unzähligen bedrohten Atelierstandorte: Wenn Berlins Bezirke nicht genauso monokulturell und gesichtslos werden sollen, wie es die Innenstädte anderer Metropolen heute schon sind, müssen wir der Verdrängung von Kulturorten endlich Einhalt gebieten. Das kann nur durch einen Dreiklang von Sichern, Sanieren und eine strategische Stadtentwicklungspolitik geschehen, die Kunst und Kultur schon in der Planungsphase mitdenkt. Unser besonderes Augenmerk gilt den öffentlichen Immobilien, die bislang zu wenig oder gar nicht genutzt werden. Niemand versteht, warum große Flächen im ehemaligen Flughafengebäude Tempelhof oder am Museumsstandort Dahlem leer stehen - bei allen Herausforderungen, die hier Sanierungstau, Denkmal- oder Brandschutz mit sich bringen. Wir stehen zu dem Versprechen, Tempelhof für kulturelle Nachnutzungen zu öffnen - wer einem reinen Verwaltungsstandort das Wort redet, hat die Potentiale dieses Ortes nicht verstanden. Wir wollen außerdem, dass die im Koalitionsvertrag verankerte Agentur für kulturelle Zwischennutzungen und das Kulturkataster endlich auch umgesetzt werden. Berlin verlor schon zu viel einzigartige Club- und Kreativkultur weil Investoren rücksichts- oder ahnungslos bauten und nach Vollendung der Lärmschutz wiedermal zu einer Schließung der Orte führten. Genug davon! Denn viele Konflikte lassen sich lösen, wenn sie früher angegangen werden. Das von der Clubcommission erarbeitete Clubkataster muss auf Verwaltungsebene bekannter gemacht werden und in die offiziellen Planungsinstrumente Eingang finden. Außerdem wollen wir erneut prüfen, ob das in London bereits gängige "Agent of Change" Prinzip sich in verbindliches Recht umsetzen lässt. Die Rummelsburger Bucht steht exemplarisch für den notwendigen Paradigmenwechsel in Berlin: Jahrelang wurden Investoren mit Kusshand genommen um Flächen zu entwickeln. Die dort gewachsenen Strukturen wurden ignoriert oder auf eine geduldete Zwischennutzung reduziert. Statt Luxuswohnungen und Aquarium braucht die Gegend aber neben bezahlbaren Wohnraum und sozialer Infrastruktur auch weiterhin Grünflächen und Freiräume. Wir erwarten, dass die BVV Lichtenberg den alten Bebauungsplan in der vorliegenden Form nicht annimmt. Die Stadt und ihre Bedarfe haben sich radikal geändert. Der Senat muss die Entwicklungsziele für die Rummelsburger Bucht neu bestimmen und sich gemeinsam mit den Anwohnenden und der Stadtgesellschaft auf eine nachhaltige Entwicklung des Areals erarbeiten. Schwerpunkt muss dabei auch der Erhalt von Altbestand, Natur und Freiräumen in gemeinwohlorientierter Entwicklung haben.

Ausgrenzende Gesetze abschaffen

Noch immer gibt es viele Gesetze, die ein selbstbestimmtes Leben behindern und Menschen vorschreiben, wie sie mit sich und ihrem Körper umzugehen haben. Diese wollen wir verändern und für alle gerecht gestalten. So wollen wir beispielsweise endlich das Transsexuellengesetz auf Bundesebene abschaffen. Wer sein bei der Geburt zugewiesenes Geschlecht ändern will, tut dies nicht aus irgendeiner Laune heraus. Trans*Menschen brauchen keine Hürden, sondern müssen unterstützt werden. Deshalb brauchen wir ein Gesetz, das dem Gedanken der Selbstbestimmung und nicht der Pathologisierung folgt. Des Weiteren muss der Begriff der Rasse endlich aus dem Grundgesetz gestrichen bzw. ersetzt werden. Auch das Selbstbestimmungsrecht von Menschen mit Gebärmutter darf nicht länger durch das Strafgesetzbuch kriminalisiert werden, wie es die Paragraphen 218 und 219 tun. Der vermeintliche „Kompromiss“ rund um den Paragraphen 219a reicht uns deshalb bei weitem nicht aus. Wir kämpfen weiter für eine Abschaffung und für die Entkriminalisierung eines Abbruchs der Schwangerschaft. Dafür müssen die Paragraphen 218 und 219 gestrichen werden. Selbstbestimmung bedeutet für uns, dass Frauen frei von jeglichem Stigma über ihren Körper und eine mögliche Schwangerschaft entscheiden können.

Wir kämpfen nach der Ehe für alle weiter für die vollständige Gleichstellung aller Familien, unabhängig vom Geschlecht der Eltern. Eine rechtliche Regelung für Regenbogen- und Patchworkfamilien mit bis zu vier erziehungsberechtigten Elternteilen wollen wir in geltendes Recht überführen. Familie ist wo Menschen füreinander Verantwortung übernehmen.

Im Mittelpunkt der Drogenpolitik muss die Selbstbestimmung und Freiheit von erwachsenen Konsumierenden stehen. Jegliche Kriminalisierung von Drogenkonsumierenden lehnen wir strikt ab und setzen uns darüber hinaus für legale Abgabeformen ein. Diese müssen sich nach dem konkreten Risiko der jeweiligen Substanz richten. Klar ist aber auch: Jugendschutz und Verbraucher*innenschutz ist nicht verhandelbar. Insbesondere Kinder und Jugendliche müssen geschützt werden. Stigmatisierung ist keine passenden Antworten für Menschen, besonders bei Menschen, die an einer Abhängigkeitserkrankung leiden. Suchtkranke Menschen brauchen Hilfe und Unterstützung und keine Handschellen. Wir Grüne setzen auf Aufklärung, Prävention und Transparenz und darauf, dass Hürden beim Erwerb von Substanzen so angesetzt werden, dass sie weder niedrig-schwellig – wie derzeit bei Alkohol oder Nikotin – noch gefährdend sind. So muss beispielsweise ein grundsätzliches Werbeverbot für alle Drogen bestehen, auch für Alkohol und Tabak. Praktische Antworten auf unsere Forderungen sind: die kontrollierte Abgabe von Cannabis, Drug-Checking (das sowohl die stationäre als auch die mobile Substanzanalyse möglich macht), die feste Etablierung und Ausweitung einer Naloxon-abgabe an opiatabhängige Menschen, den weiteren Ausbau der Präventionsarbeit, eine Erhöhung der nichtverfolgbaren Menge von 15 auf 30 Gramm Cannabis und die Einführung einer geringen Mengen auch für weitere Substanzen. Außerdem werden wir uns im Bundesrat für eine umfassende Reform des Betäubungsmittelgesetzes einsetzen. Auch wenn unter den aktuellen politischen Mehrheiten zwar die notwendige Reform des BtmG nicht zu erwarten ist, so verbleibt zumindest die Möglichkeit festzuschreiben, dass die Bundesländer selbst darüber entscheiden können, ob sie Modellversuche hinsichtlich legaler Abgabeformen durchführen.

Auch und gerade Alleinerziehende haben es oft mit gesetzlichen Ungerechtigkeiten zu tun, weil sie nicht der Norm entsprechen, an der die Politik ausgerichtet wird. Stattdessen findet sogar oft eine Stigmatisierung statt. Dies wollen wir ändern, denn für uns gilt, dass die Erziehung eines Kindes unterstützt werden muss, egal von wem und in welcher Form. Deshalb wollen wir Steuermodelle, die ein bestimmtes Zusammenleben finanziell fördern überwinden und steuerliche Bevorzugungen dort zum Tragen bringen, wo Kinder groß werden.

Grüner Druck macht sich bezahlt: Endlich wird das Land Berlin den Klageweg beschreiten, um das Neutralitätsgesetz bis zu einer höchstrichterlichen Prüfung zu bringen. Es ist für uns nicht hinnehmbar, dass auf dem Rücken einiger weniger Frauen derzeit öffentlich ausgetragen wird, ob dieses Gesetz rechtens ist. Denn für uns ist klar, vermeintliche Neutralität kann nicht dazu führen, dass in öffentlichen Debatten Frauen vorgeschrieben wird, was sie anzuziehen haben oder eben nicht.

Das 2018 in Kraft getretene Prostituiertenschutzgesetz hat im Gegensatz zu seiner Bezeichnung die Arbeitsbedingungen der Sexarbeitenden verschlimmert. Wir wollen die Rechte der Sexarbeitenden genauso wichtig nehmen, wie die anderer Berufsgruppen und uns für die Verbesserung der Umsetzung und die Veränderung bestehender Regelungen einsetzen. Im Rahmen der Mitwirkung der Landesregierung bei der Gesetzgebung des Bundes wollen wir für die dringend notwendige Schaffung angemessener Gesetze bzw. die Abschaffung einschränkender Regelungen eintreten.

Gemeinsam anders

Eine tatsächlich vielfältige Gesellschaft, die gemeinwohlsolidarisch die Verantwortung für die Zukunft übernimmt, ist eine vielfältige, friedliche und erfolgreiche. Um dieses Ziel zu erreichen, brauchen wir die Weiterentwicklung der Mehrheitsdemokratie hin zur vielfältigen Demokratie, die Minderheitenrechte als wesentlichen Bestandteil demokratischer Entscheidungsprozesse wahrt. Wir wissen auch, dass dies nur gelingen kann, wenn man streitet, diskutiert und aufeinander zu geht. Dass in einer Metropole wie Berlin unterschiedliche Interessen verschiedenster Gruppen erst einmal aufeinander treffen, ist vollkommen normal. Wer Vielfalt leben will, muss dies gestalten, muss den Interessensaustausch organisieren und den Marginalisierten zur Seite stehen.

Die Kraft unserer Gesellschaft, die sie tragfähig, friedlich und sozial sein lässt, liegt darin, dass wir gemeinsam für unsere Unterschiedlichkeit eintreten. Lasst uns gemeinsam neue Wege gehen, damit alle von uns nach ihrer Fasson, hier in Berlin und darüber hinaus, glücklich werden können.

Kategorie

Vielfalt Leben