Rechtsverbindliche Regelungen für den Schulbesuch neu zugewanderter Kinder und Jugendlicher

20.09.23 –

Beschluss auf dem Landesausschuss:

Der neue "Leitfaden zur Integration" fasst die Rechtslage zusammen, setzt aber kein neues Recht

Die Senatsverwaltung für Bildung hat im April 2023 einen "Leitfaden zur Integration von neu zugewanderten Kindern und Jugendlichen in die Schule" herausgebracht. Dieser Leitfaden gibt viele praktische Hinweise zur Organisation des Schulbesuchs von neu zugewanderten Schüler*innen und umfasst den gesamten Prozess von der Einschulung bis zum endgültigen Übergang in die Regelklasse.

Allerdings wird bei einer kritischen Lektüre deutlich, dass die bestehenden rechtlichen Regelungen, die der Leitfaden ebenfalls zusammenfasst, für die Zielgruppe nicht ausreichen.

Anders als für andere Schüler*innen gibt es keine vorgeschriebene Stundentafel mit verbindlichen Stunden für den Fachunterricht; es gibt auch für den DaZ-Unterricht keinen Rahmenplan, der die zu erwerbenden Kompetenzen festlegt, da Deutsch als Zweitsprache in Berlin kein reguläres Unterrichtsfach ist. Außerdem: Obgleich Berlin schon vor Jahren die so genannten "Ausländeregelklassen" abgeschafft hat und sich Berlin als inklusives Bildungssystem versteht, gibt es keine rechtlich bindende Verpflichtung für die Schulen, die neu zugewanderten Kinder und Jugendlichen zumindest für einige Fächer wie z. B. Sport und Kunst von Anfang an zu integrieren und mit den Schüler*innen der Regelklassen zu mischen, was soziale Teilhabe ermöglichen und den Spracherwerb unterstützen würde. Die Teilhabe und der Bildungserfolg werden auch dadurch eingeschränkt, dass auch für den additiven Förderunterricht nach dem Übergang in die Regelklasse nur Richtwerte benannt werden; aber keine rechtsverbindlichen Ansprüche auf Förderstunden bestehen. Zudem werden ihre sprachlichen Kompetenzen in der Erstsprache weder gefördert noch – um Brüche in der Bildungsbiografie zu vermeiden – durch reguläre Unterrichtsangebote für den Erwerb fachlicher Kompetenzen genutzt. Damit die neu zugewanderten Kinder und Jugendlichen gleichberechtigt am Bildungssystem teilhaben können und dieselben Chancen erhalten wie alle anderen Berliner Schüler*innen, reicht ein unverbindlicher Leitfaden nicht aus; hier braucht es klare rechtsverbindliche Regelungen. Unsere Kernforderungen lauten:

 

1. Schulplätze für alle – Schulbesuch darf nicht vom Aufenthaltsstatus abhängen

Rund 1500 geflüchtete und neu zugewanderte Kinder und Jugendliche warten derzeit in Berlin (Stand Mai 2023) auf einen Schulplatz – und das häufig bereits seit Monaten und obgleich sie nach dem Schulgesetz schulpflichtig sind. Diese Situation, die nicht neu ist, sondern sich seit Jahren wiederholt, zeigt, dass Berlin das Recht auf Bildung für diese Zielgruppe nicht angemessen umsetzt – und das muss sich ändern. Die erste selbstverständliche Forderung besteht also darin, dass die Bildungsverwaltung eine hinreichende Zahl an Schulplätzen schafft. Außerdem müssen auch für Krisenzeiten Schulplätze vorgehalten werden. In Mangelsituationen dürfen die neu zugewanderten Schüler*innen nicht die ersten Leidtragenden sein.

Dazu müssen heute die mittel- und langfristigen Planungsinstrumente angepasst werden:

  • Festschreibung einer festen Ein- und Zuwanderungsquote für die Prognose von Schüler*innenzahlen, die der Zuwanderungsquote der letzten Jahrzehnte entspricht und den Zuzug über die Fachkräfteeinwanderung mit einbezieht.
  • Berücksichtigung dieser Zieldaten in der Schulentwicklungsplanung beim Schulbau und bei der Lehrkräfteausbildung. Berlin ist seit Jahrzehnten eine Einwanderungsstadt, das muss in der Schulentwicklungsplanung endlich berücksichtigt werden.

Um die aktuelle Situation zu verbessern, schlagen wir folgende Sofortmaßnahmen vor:

  • Sofortprogramm für nicht beschulte Kinder und Jugendliche Der Senat muss sofort weitere Lehrkräfte für die Einrichtung von zusätzlichem Unterricht gewinnen, um allen aktuell nicht beschulten Kindern und Jugendlichen wenigstens einige Stunden Unterricht in der Woche anzubieten.
  • Bedarfsgerechte Ausweitung von Übergangsprogrammen: Programme für Kinder und Jugendliche ohne Schulplatz wie "Fit für die Schule" müssen umgehend ausgeweitet werden (Schwerpunkt Tegel-TXL) und verlässlich finanziert werden. Die Förderrichtlinie ist zu überarbeiten und muss praxisnäher und unbürokratischer werden, um mehr freie Träger ansprechen zu können.

 

2. Inklusion und Teilhabe auch für neu zugewanderte Kinder und Jugendliche

Aber Berlin fehlt auch nach wie vor ein klares Konzept, das die Rahmenbedingungen einer inklusiven Beschulung neu zugewanderter und geflüchteter Kinder und Jugendlicher vorgibt und damit die Lehrkräfte entlastet und die Schülerinnen und Schüler gezielt unterstützt. Die zweite Forderung besteht darin, ein solches Konzept für den Schulbesuch und den Übergang zu entwickeln und rechtlich zu verankern. Folgende Aspekte sollten dabei Berücksichtigung finden:

  • Integration in den Regelbetrieb von Anfang an: Neu zugewanderten Kindern und Jugendlichen muss eine inklusive Teilhabe an schulischen Unterrichtsund Freizeitaktivitäten ermöglichen werden.
  • Mehrstufiger Übergang: Berlin sollte ebenso wie andere Bundesländer ein verbindliches alters- und kompetenzabhängiges mehrstufiges Übergangskonzept bis zur vollständigen Integration in den Regelunterricht zur Beschulung der Kinder und Jugendlichen mit geringen Deutschkenntnissen entwickeln und verpflichtend einführen.
  • Deutsch als Zweitsprache (DaZ) als ordentliches Schulfach mit verpflichtendem Curriculum einführen, DaZ und die unterrichteten Erstsprachen als Lehramtsfächer anerkennen. 84
  • Verpflichtende und einheitliche Sprach- und Lernstandserhebung: Sprachstand und fachliche Kenntnisse zu Beginn und im Verlauf des Lernprozesses verbindlich mit einheitlichem Instrument erfassen und daraus individuelle Lern- und Förderpläne entwickeln. Zur Lernstandserfassung sollte auch die Erstsprache einbezogen werden:
  • Förderung auch nach dem Übergang ins Regelsystem: Für die Zeit nach dem vollständigen Übergang ins Regelsystem muss es einen verbindlichen Anspruch auf eine Förderung mit einer festgelegten Mindestanzahl von Stunden geben.

 

3. Mehrsprachigkeit stärken und erstsprachliche Kompetenzen entfalten

Eine ressourcenorientierte Sprachbildung für Kinder und Jugendliche mit einer anderen Erstsprache als Deutsch kann sich nicht auf Vermittlung der deutschen Sprache beschränken, sondern es bedarf der Anerkennung und Förderung der Kompetenzen in der Erstsprache. Eine dritte Forderung besteht in der Förderung der Mehrsprachigkeit durch Entfaltung der erstsprachlichen Kompetenzen. Das beinhaltet:

  • Erfassung der Erstsprachen aller Berliner Schüler*innen, wie im § 15 Schulgesetz vorgesehen, um den Bedarf an Angeboten für die Förderung der Erstsprache (ESU, SESB, ZwErz u.a.) zu bestimmen. Diese Erfassung muss zunächst für alle bestehenden Jahrgänge und dann bei jeder Aufnahme eines neuen Jahrgangs erfolgen.
  • Ausweitung der Angebote für Erstsprachliches Lernen und Zweisprachige Erziehung auf mehr Sprachen und Schulstufen
  • Verstärkte Einstellung von Lehrkräften mit internationalen Abschlüssen: Insbesondere für den mehrsprachigen Unterricht werden mehr- und erstsprachliche Lehrkräfte, die die sprachliche Vielfalt dieser Weltstadt im besten Sinne abbilden, dringend gebraucht.
  • Erleichterte Anerkennung internationaler Abschlüsse und Qualifikationen, insbesondere Anerkennung als Lehrkraft auch mit einem Fach, niedrigere Anforderungen bei der Deutsch-Kompetenz (C1 statt C2 nach Europ. Referenzrahmen für Sprachen), Erleichterung für Zusatzstudien, Monitoring beim Antragsverfahren.