Wehrpflicht nein danke! Freiwilligendienste strukturell stärken

10.12.25 –

Vorläufiger Beschluss auf dem Landesausschuss:

Spätestens seit dem Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine zeigt sich, dass Frieden und Freiheit in Europa keine Selbstverständlichkeiten mehr sind. Auch Deutschland steht zunehmend im Fokus hybrider Bedrohungen: von Cyberangriffen über Desinformation bis hin zu Versuchen gezielter gesellschaftlicher Destabilisierung. Wir nehmen diese veränderte sicherheitspolitische Lage ernst, ebenso wie die damit verbundenen Sorgen und Ängste der Bevölkerung.

Diese Realität markiert eine echte sicherheitspolitische Zeitenwende, eine Zäsur, die von uns verlangt, Wehrhaftigkeit und Resilienz neu zu denken. Doch eine Zeitenwende bedeutet nicht automatisch die Rückkehr zu alten und überholten Konzepten, wie die Bundesregierung sie plant.

Am 13. November 2025 einigte sich die Bundesregierung aus Union und SPD auf das sogenannte Wehrdienstmodernisierungsgesetz (WDModG). Angelehnt an das Schwedische Modell soll zunächst auf die Förderung von Freiwilligkeit gesetzt werden. Verpflichtend ist zunächst nur das Ausfüllen eines Fragebogens und die Musterung aller jungen Männer, die 2008 oder später geboren wurden. In Berlin würde das im kommenden Jahr 16.000 Jugendliche betreffen. Melden sich dennoch nicht genug Personen freiwillig, sieht der Gesetzentwurf eine Bedarfswehrpflicht vor, die vom Bundestag beschlossen werden kann. Das Verfahren dafür steht noch nicht vollständig fest, aber auch Zufallsverfahren wie das Losverfahren werden weiterhin debattiert.

Als Bündnis 90/Die Grünen Berlin lehnen wir eine Wiedereinführung der verpflichtenden Musterung, der Wehrpflicht oder die Einführung anderweitiger Pflichtdienste entschieden ab. Ein verpflichtendes Dienstjahr, wie es von konservativen Kreisen gefordert wird, ist ein gesellschaftspolitischer Rückschritt und steht in klarem Widerspruch zu unseren Grundwerten von Selbstbestimmung und Freiheit. Stattdessen setzen wir darauf, bestehende Angebote des freiwilligen, gesellschaftlichen Engagements zu stärken, bestehende Hürden abzubauen und Strukturen, die echte Beteiligung und Zusammenhalt ermöglichen, zu stärken. Dienste inner- und außerhalb der Bundeswehr müssen so gestaltet werden, dass sie die Wehrhaftigkeit unserer Demokratie und den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken.

Die Bundesregierung steht auch in der Verantwortung, die Bevölkerung vor einem militärischen Angriff zu schützen und eine bestmögliche Vorbereitung auf einen möglichen Angriff zu gewährleisten. Dabei geht es neben der personellen Einsatzbereitschaft der Bundeswehr auch um den Zivilschutz. Dabei setzen wir klar und konsequent auf Freiwilligkeit. Das im Grundgesetz garantierte Recht auf Verweigerung des Wehrdienstes mit der Waffe ist für uns unantastbar.

Die eingeschränkten Kapazitäten für die Ausbildung sollten für geeignete Freiwillige jeden Alters und Geschlechts optimal genutzt und ausgebaut werden. Wir wollen den Wehrdienst und Zivilschutz für eine breite Zielgruppe attraktiver machen und auch die Rahmenbedingungen von Freiwilligendiensten stärken - diese Aufgabe muss jetzt ernsthaft und mit Nachdruck angegangen werden. Auch bei Freiwilligendiensten muss sichergestellt werden, dass sie tatsächlich allen Menschen zugänglich sind. Um Zivilschutz und militärische Reserve strukturiert aufzubauen fordern wir die Einrichtung einer Koordinierungsstelle für gesamtstaatliches Krisenmanagement, die die zivil und militärisch nutzbaren Kompetenzen von Freiwilligen abfragt und passende Aus- und Fortbildungsmöglichkeiten vermittelt. Dabei reicht es nicht, Antworten nur auf der nationalen Ebene zu geben.Wir bekennen wir uns zu einer handlungsfähigen, demokratisch kontrollierten Bundeswehr und zur Verteidigungsfähigkeit Deutschlands im europäischen und internationalen Verbund. Europäische und internationale Krisen brauchen europäische und internationale Antworten. Deshalb wollen wir die europäische Zusammenarbeit in diesen Bereichen weiter stärken, insbesondere bei Zivilschutz und Freiwilligendiensten.

Schluss mit Politik über die Köpfe junger Menschen hinweg

In der öffentlichen Debatte um die Wiedereinführung der Wehrpflicht geht die Perspektive junger Menschen oftmals unter. Gleichzeitig zeigen Umfragen seit Jahren ein eindeutiges Bild: Diejenigen, die am Ende einen Pflichtdienst ableisten müssten, lehnen ihn klar ab. Mehr als 60 % der unter 30-Jährigen sprechen sich regelmäßig gegen eine Wehrpflicht aus und laut einer von Greenpeace in Auftrag gegebenen Studie würde eine Mehrheit der 16- bis 25-Jährigen den Dienst an der Waffe sogar verweigern. Diese Zahlen verdeutlichen: Junge Menschen wollen selbst bestimmen, wie und wo sie Verantwortung übernehmen. Tausende Schüler*innen deutschlandweit organisieren Proteste und Schulstreiks gegen ein Wehrpflicht. Wir stehen an ihrer Seite und solidarisieren uns mit allen Schüler*innen die ihr Stimme nutzen um sich Gehör bei Politik und Gesellschaft zu verschaffen: für politische Entscheidungen mit und für jungen Menschen, für eine Perspektive und sichere Zukunft und gegen Maßnahmen, die Unsicherheit verursachen und gleichzeitig keine echten Lösungen sind.

Dabei ist es gerade diese junge Generation, die in den vergangenen Jahren bereits enorme Lasten getragen hat. Während der Corona-Pandemie hat sie sich zurückgenommen, zentrale Erfahrungen ihrer Jugend verpasst und ältere sowie vulnerable Gruppen geschützt. Die negativen Auswirkungen dieser Zeit in den Bereichen Bildung und mentaler Gesundheit wurden politisch nie aufgefangen. Heute ringt sie mit hohen Mieten, gestiegenen Preisen und Unsicherheit in Ausbildung, Studium und Beruf und wird die dramatischsten Folgen der Klimakrise erleben. Hinzu kommt der jahrzehntelange Investitionsstau in Bildung, Infrastruktur und Daseinsvorsorge, dessen Konsequenzen junge Menschen bereits heute ausbaden müssen und die das Vertrauen in Politik und staatliche Institutionen seit Jahren schwächen.

Vor diesem Hintergrund einen militärischen oder gesellschaftlichen Pflichtdienst einzufordern bedeutet, eine Generation in die Verantwortung für die Verteidigungsfähigkeit Deutschlands zu ziehen, der die Politik selbst über Jahre hinweg elementare gesellschaftliche Verantwortung schuldig geblieben ist. Von jungen Menschen zu verlangen, die Versäumnisse der vergangenen Jahrzehnte auszubügeln und die gesellschaftliche Verantwortung der Verteidigungsfähigkeit zu schultern, während ihre eigenen Bedürfnisse, Chancen und Lebensrealitäten politisch zu lange vernachlässigt wurden, geht gegen den Grundwert der Generationengerechtigkeit, für den wir als Partei wie keine andere stehen.

Für uns steht fest: Junge Menschen sind nicht bloß eine Ressource, auf die der Staat im Krisenfall zurückgreifen kann, sondern aktive Mitgestalter*innen unserer demokratischen Gesellschaft. Sie brauchen Räume, in denen sie selbstbestimmt handeln können und eine Politik, die ihnen zutraut, Verantwortung freiwillig zu übernehmen. Was sie nicht brauchen, sind staatliche Pflichtdienste, die ihre Freiheit einschränken und ihre Perspektiven ignorieren.

Für den Verteidigungsfall explizit junge Menschen verpflichten zu wollen ist grundsätzlich falsch. Der Fokus sollte hier nicht auf den Jüngsten liegen, während diese Generation gleichzeitig von den nicht-zukunftsgewandten Entscheidungen der aktuellen Regierungen nicht berücksichtigt oder mitgenommen wird.

Strukturelle Probleme in der Bundeswehr anerkennen und beheben

Strukturell verfügt die Bundeswehr derzeit weder über die notwendige Infrastruktur noch über ausreichende personelle Kapazitäten, um eine Wiedereinführung der Wehrpflicht überhaupt sinnvoll umsetzen zu können. Es mangelt an Ausbilder*innen, an Material, an Unterkünften, an modernen Übungsplätzen und an flexiblen Organisationsstrukturen. Hinzu kommen massive Probleme im Beschaffungswesen.

Gleichzeitig bestehen tiefgehende institutionelle Problemen: Immer wieder rücken rechtsextreme Netzwerke in der Bundeswehr, insbesondere im KSK, in den Fokus. Berichte über Rassismus, Sexismus und Queerfeindlichkeit zeigen, dass die Bundeswehr strukturell noch weit von einem inklusiven, diskriminierungsfreien Umfeld entfernt ist. Gleichzeitig bestehen tiefgehende institutionelle Problemen: Immer wieder rücken rechtsextreme Netzwerke in der Bundeswehr, insbesondere im KSK, in den Fokus. Berichte über Rassismus, Sexismus und Queerfeindlichkeit zeigen, dass die Bundeswehr strukturell noch weit von einem inklusiven, diskriminierungsfreien Umfeld entfernt ist. Zugleich gilt es, das Engagement jener Menschen anzuerkennen, die in der Bundeswehr, dem Katastrophenschutz und im Technischen Hilfswerk, und die tagtäglich unter oft schwierigen Bedingungen professionellen Dienst leisten und Verantwortung für die Sicherheit Deutschlands und Europas übernehmen. Eine zukunftsfähige Bundeswehr muss sich durch hohe Professionalität, Verfassungstreue und Sensibilität für Vielfalt und Demokratie auszeichnen. Daher braucht es gezielte Reformen in Ausbildung, Supervision und interner Kontrolle, um Fehlentwicklungen strukturell zu verhindern und Vertrauen zu stärken. Anstatt junge Menschen per Pflichtdienst in solche Strukturen zu zwingen, braucht es konsequente Aufarbeitung und starke interne und externe Kontrollmechanismen, sowie eine Kultur, die Fehlverhalten klar sanktioniert und Betroffene schützt. Dazu gehört auch eine umfassende und verpflichtende Weiterbildung aller Angehörigen der Bundeswehr zu Diskriminierung, Vielfaltskompetenz und demokratischer Kultur. Wer in staatlicher Verantwortung steht und mit Waffen ausgebildet wird, muss besonders sensibel für Rassismus, Sexismus, Antisemitismus, Queerfeindlichkeit und jede andere Form gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit sein und entsprechend handeln.

Dass die Bundeswehr für viele junge Menschen kein attraktives Arbeitsumfeld darstellt, zeigt sich auch in den hohen Abbruchquoten von rund 25 % in den ersten Dienstmonaten. Diese Quote ist ein Symptom systemischer Probleme, nicht fehlender „Verantwortungsbereitschaft“ einer Generation.

Junge Menschen sind keine Lückenfüller: soziale Infrastruktur stärken

Der Fachkräftemangel im sozialen Sektor ist seit Jahren ein zunehmendes Problem und wird sich in den kommenden Jahren noch weiter verschärfen. Besonders in der Pflege, in Kitas, in der Jugendhilfe und in Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen fehlen qualifizierte Fachkräfte. Diese Versorgungslücken entstehen jedoch nicht, weil es zu wenige junge Menschen gibt, die grundsätzlich bereit wären, im sozialen Bereich zu arbeiten, sondern weil der Staat seit Jahren darin versagt, verlässliche und attraktive Rahmenbedingungen für Beschäftigte im sozialen Bereich zu schaffen.

Ein Pflichtdienst adressiert weder die Ursachen des Fachkräftemangels noch die strukturellen Schwächen des sozialen Sektors. Der damit verbundene Mehraufwand für Supervision, Wissensvermittlung und organisatorische Betreuung würde bestehende Engpässe eher verschärfen, als sie zu beheben. Statt tiefgreifenden Lösungsansätzen durch zum Beispiel Investitionen in Bildung und Ausbildung werden hier Scheinlösungen mit jungen Menschen als Leidtragenden vorgeschlagen. Auch große Wohlfahrtsverbände und Träger von Freiwilligendiensten wie der Paritätische Gesamtverband oder die Diakonie haben sich zuletzt entschlossen gegen eine Dienstpflicht geäußert und weisen auf die mit einer Dienstpflicht einhergehenden Grundrechtsverletzungen sowie den immensen organisatorischen Aufwand und die Kosten hin. Außerdem kritisieren sie, dass soziale Berufe durch so einen Eingriff abgewertet werden.

Freiwilligendienste strukturell stärken

Bereits heute engagieren sich bis zu 100.000 Menschen jedes Jahr im Rahmen von Freiwilligendiensten wie dem Freiwilligen Sozialen Jahr (FSJ), dem Bundesfreiwilligendienst (BFD) oder dem Freiwilligen Ökologischen Jahr (FÖJ). Zumeist sind es junge Menschen, die sich nach ihrer Schulzeit für ein Jahr des gesellschaftlichen Engagements entscheiden und Tag für Tag Verantwortung übernehmen. Sie unterstützen Pflegekräfte in Altenheimen, begleiten Kinder und Jugendliche in Schulen und Kitas, helfen Menschen mit Behinderung im Alltag oder setzen sich für den Klima- und Naturschutz ein.

Mit ihrem Einsatz stärken sie nicht nur soziale Einrichtungen und gemeinnützige Organisationen, sondern sammeln auch selbst wertvolle und nachhaltig-prägende Erfahrungen. Viele entdecken durch ihren Freiwilligendienst neue berufliche Perspektiven, lernen ihre eigenen Fähigkeiten besser kennen und entwickeln ein starkes Bewusstsein für gesellschaftliche Zusammenhänge. Nicht selten entstehen aus diesem Engagement langfristige berufliche oder ehrenamtliche Bindungen, die weit über das eigentliche Dienstjahr hinausreichen.

Freiwilligendienste zeigen: junge Menschen sind bereit, sich einzubringen, gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen und sich zu engagieren. Politik muss diese Bereitschaft stärken, statt auf Zwang und Bevormundung zu setzen. Statt Debatten über ein Pflichtjahr braucht es verlässliche finanzielle und strukturelle Rahmenbedingungen, bessere Anerkennung von Leistungen und niedrige Zugangshürden für alle Menschen, die sich bereits heute freiwillig engagieren wollen.

Freiwilligendienste stehen seit Jahren unter Druck. Einsatzstellen kämpfen um eine ausreichende Finanzierung. Im Bundeshaushalt 2025 sind Kürzungen bei Freiwilligendiensten von rund 40 Millionen € vorgesehen, was etwa 20% weniger im Vergleich zum Vorjahr sind. Und für die Freiwilligen reicht das Taschengeld bei langem nicht aus um sich das Leben zu finanzieren - schon gar nicht in einer Stadt wie Berlin!

Und trotzdem werden nach aktuellen Haushaltsplänen des Bundes etwa ein Drittel der aktuellen Mittel für Freiwilligendienste gestrichen. Junge Menschen leiden schon jetzt unter kaputtgesparten Strukturen im Bereich des Freiwilligendienstes und auch in der Bundeswehr.

Darüber hinaus braucht es eine langfristige Absicherung der Trägerstrukturen, die Freiwilligendienste organisieren und begleiten. Eine verlässliche Finanzierung, hochwertige pädagogische Begleitung und klare Qualitätsstandards.

Deshalb fordern wir als Bündnis 90/Die Grünen Berlin:

  1. Einen Rechtsanspruch auf einen Freiwilligendienst
    • ​​​​​​​Jede Person, die sich gesellschaftlich engagieren möchte, soll ein gesetzlich verankertes Recht auf einen Freiwilligendienst haben und dies unabhängig vom Alter, Gender oder finanziellen Hintergrund.
  2. Finanzielle Absicherung von Freiwilligendiensten
    • Wir fordern eine Anhebung des Taschengeldes für Freiwillige, die sich am BAföG-Höchstsatz orientiert und aus dem Bundeshaushalt finanziert wird. So kann Chancengleichheit erhöht werden und sozialer Ungleichheit entgegengewirkt werden.
  3. Kostenloser Zugang zum ÖPNV für alle Freiwilligen
    • Wir fordern eine kostenfreie Bereitstellung des Deutschlandtickets für Freiwillige, um die finanzielle Belastung zu reduzieren. Des Weiteren müssen Freiwillige Anspruch auf die gleichen Vergünstigungen wie Senior*innen oder Studierende erhalten.
  4. Sichtbarkeit von Freiwilligendiensten erhöhen
    • Wir fordern eine bundesweite Informationskampagne, mit einem Motivationsschreiben des/der Bundespräsidenten*in an alle Schulabgänger*innen. Damit soll Menschen geholfen werden, einen Überblick über die Vielfalt und die Möglichkeiten bestehender Programme zu erhalten.
  5. Einrichtung eines freiwilligen Engagementregisters beim THW
    • Die Berliner Bündnisgrünen setzen sich für die Einrichtung eines freiwilligen Engagementregisters ein, in das sich all jene – unabhängig von ihrem Geschlecht und Alter - eintragen können, die bereit sind, sich im Verteidigungs- und Krisenfall zu engagieren

Vor dem Hintergrund der sicherheitspolitischen Gesamtlage, der strukturellen Defizite in der Bundeswehr und der bestehenden Engpässe im sozialen Bereich ist klar: Pflichtdienste oder die Wiedereinführung der Wehrpflicht sind weder gerecht noch wirksam. Junge Menschen sollen nicht Zwangsdienste leisten, um politische Versäumnisse auszugleichen, sondern Räume erhalten, in denen sie freiwillig Verantwortung übernehmen können. Bündnis 90/Die Grünen Berlin stehen deshalb für eine konsequente Stärkung freiwilliger Dienste, die Engagement, Selbstbestimmung und gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen und wertschätzen.

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Solides Fundament, funktionierendes Berlin.