14.10.16 –
Berlin, 14.10.2016
Lieber Boris,
seit einer Woche erleben wir eine heftige Debatte inner- und außerhalb Grüner Kreise zu - ja zu was eigentlich? Von Winfrieds Debattenbeitrag zum Auseinanderdriften der Gesellschaft und Grünen Konzepten für eine starke, pluralistische Gesellschaft ist inzwischen nicht mehr viel in der Wahrnehmung übrig geblieben. Neben den von ihm inzwischen präzisierten und richtig gestellten Punkten dominieren nun Deine Äußerungen die Sozialen Netze, die queeren Medien und die grüne innerparteiliche Debatte. Dies schadet auch dem von Winfried ursprünglich angedachten Diskurs zum Umgang mit Rechtspopulisten und „besorgten Bürgern“.
Um es direkt zu sagen, viele Deiner Beiträge zur Debatte, Deiner Posts und Kommentare empfinden wir queere Grüne als verletzend, unangebracht und fern jedem grünen Debattenstand und Diskurs.
Mit Deinen Äußerungen zur „Lautstärke“ der Minderheit aus LSBTTIQ wertest Du eine ganze Bewegung, die gleiche Rechte über Jahrzehnte mühsam und gegen vehemente Widerstände erkämpfen musste, ab. Menschen die gegen gesellschaftlichen und rechtlichen Druck eine Stimme finden mussten - und sie immer neu finden müssen! Nicht umsonst feiern (nicht begehen!) wir diese Woche den Internationalen Coming Out Day. Noch immer sind jugendliche und erwachsene queere Menschen in unserem Land massiver Diskriminierung und Anfeindung bis hin zur brutalen Gewalt ausgesetzt. Das Suizidrisiko queerer Jugendlicher ist um den Faktor 4-7 gegenüber dem Schnitt der Bevölkerung erhöht. Für Jugendliche in der inneren Coming-Out-Phase sind sichtbare Vorbilder enorm wichtig. Dein Ruf nach geringerer Sichtbarkeit und „Lautstärke“ ist auch hier kontraproduktiv.
Bei CSD-Paraden feiern wir die erreichten Erfolge und die erreichte Sichtbarkeit – und senden ein Signal aus in diejenigen Weltregionen, die nicht so weit sind. Und leider liegen diese Regionen gar nicht so weit weg. Im Gegenteil: in Russland werden Rechte queerer Menschen massiv beschnitten und auch in Deutschland mobilisieren rechtspopulistische und -extremistische Gruppen gegen unsere Menschenrechte, wenn etwa in Stuttgart Tausende gegen den Bildungsplan der grün-geführten Landesregierung auf die Straße gehen. Wir erwarten hier die Solidarität aller grünen Mandats- und Verantwortungsträger – mit uns, aber auch mit der Landesregierung in Baden-Württemberg.
Wir Grünen tragen den Begriff „Homolobby“ deswegen mit Stolz. Denn wir stellen uns selbstbewusst und lautstark an die Seite von benachteiligten Minderheiten. Wir stehen seit Jahrzehnten für die vollständige Gleichstellung von LSBTTIQ ein. Das ist Teil unseres konsequenten und modernen Zukunftsentwurf für unsere Gesellschaft. Wir sind und bleiben die „Homolobby“: wir sind stolz drauf und wir haben noch viel zu tun!
Wenn du Wichtigkeit von Regenbogenfamilien auf ihre Anzahl reduzierst, ist das ein Hohn in den Ohren der betroffenen Familien und ihrer Kinder. Sie sind keine Statistik, sondern reale Menschen mit wichtigen Anliegen. Wir freuen uns, dass die Zahl der Regenbogenfamilien langsam wächst, wenn gleichgeschlechtliche Paare Familien gründen und die Verantwortung für Kinder übernehmen. Das ist dann auch ein Verdienst von erkämpfter gesellschaftlicher Akzeptanz und ja: von Grüner Politik. Einer fragilen Akzeptanz, denn Eltern und Kinder sind weiterhin an vielen Punkten institutioneller wie gesellschaftlicher Diskriminierung in ihrem Alltag ausgesetzt.
Wir möchten Dich mit diesem Offenen Brief sensibilisieren und Dir gegenüber auch die Eigen- und Fremdwahrnehmung ansprechen. Du fragtest unter anderem, warum Du Dich für Leute einsetzen sollst, die Dich stetig kritisieren und als homophob darstellen. Wir hoffen, dass Deine Kritikfähigkeit als gewählter, demokratischer Verantwortungsträger größer ist als diese Frage suggeriert. Wir laden Dich herzlich ein, mit uns in den Dialog zu treten und diesen nicht über Facebook und Co. zu führen.
Vor dem Recht sind alle gleich. Frauen und Männer, Menschen auf der Flucht – egal woher sie kommen –, LSBTTIQ und allen anderen Minderheiten. Wir kämpfen mit den gesellschaftlichen Gruppen zusammen und stehen mit ihnen für unsere gemeinsamen Ziele ein. Eine der Wurzeln der Grünen ist die Lesben- und Schwulenbewegung, stärker noch als in jeder anderen Partei. Dass ist uns Verpflichtung und Antrieb. Deine Kommentare zeigen dieses Selbstverständnis leider nicht. Sie erschrecken, verängstigen und werten ab. Sie verbinden nicht, sie setzen auf Abgrenzung. Sie zeigen ein Muster der Arroganz, welches nicht unser Anspruch für Politik ist. Die Opferrolle steht dir in diesem Diskurs nicht zu und auch nicht gut zu Gesicht.
Es geht darum tatsächliche Diskriminierung zu beenden. Wir wollen nicht nur das Gefühl von gleichen Rechten, sondern gleiche Rechte! Zugleich gilt es laut und deutlich zu sagen: diese gleichen Rechte nehmen niemandem etwas weg. Daran ändert auch das Gefühl mancher besorgter Bürger nichts. Wir bitten Dich Fakten und Gefühle nicht gleichzusetzen.
Wir laden Dich ein und rufen Dich auf – streite mit uns für eine offene, diskriminierungsfreie und vielfältige Gesellschaft.
Mit queergrünen Grüßen für die Landesarbeitsgemeinschaft QueerGrün Berlin
Maria Meisterernst und Ulli Reichardt
Sprecher*innen der LAG QueerGrün
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