25.09.20 –
Vorläufiger Beschluss auf der Frauen*Konferenz:
Unser grüner Feminismus ist inklusiv, intersektional und plural. Mit voller Überzeugung setzen wir uns für ein grünes Berlin ein, in dem Alle selbstbestimmt und gut leben können und jegliche Formen von Diskriminierung und Marginalisierung überwunden werden. Wir erkennen an, dass wir Frauen alle von Sexismus und patriarchalen Strukturen betroffen sind, einige von uns aber gleich mit mehrfachen Diskriminierungsformen zu kämpfen haben. Gerade in Zeiten, in denen rechte, antifeministische und rassistische Kräfte errungene Rechte und Freiheiten einschränken und uns als plurale Gesellschaft auseinander drängen wollen, sind wir solidarisch miteinander.
Um Gerechtigkeit für Alle umzusetzen, müssen wir stets einen (selbst-)kritischen Blick darauf werfen, ob unser Feminismus und unsere Politik tatsächlich für alle Menschen da ist – oder eben nur einige mitdenkt und deren Lebensentwürfe und Entscheidungen als die Norm setzt und damit Rassismus und Diskriminierungsformen reproduziert. Unser Anspruch an uns selbst ist es darum, unsere eigene Ausschlussmechanismen und diskriminierenden Sprach- und Handlungsweisen zu erkennen und diese möglichst abzubauen. Wir wollen immer wieder kritisch auf uns blicken und prüfen, ob und wo wir uns weiter entwickeln müssen. Außerdem ist es unser Anspruch, Frauen, die von (antimuslimischen, Anti-Schwarzen) Rassismus, Antiromaismus/ Antisintiismus, Antisemitismus oder anderen Diskriminierungen betroffen sind, aktiv für unsere Politik zu gewinnen, ihren Perspektiven Raum zu bieten und die Hürden für ihre Teilnahme und Repräsentation abzubauen. Denn: Wir wollen nicht Politik stellvertretend für, sondern mit Menschen selbst machen.
Wenn Frauen, die ein Kopftuch tragen, weder als Lehrer*innen an staatlichen Schulen, noch als Polizist*innen oder hoheitlich tätige Justizbedienstete arbeiten können, dann steht das ganz klar im Widerspruch zu unserem Feminismus. Denn: Wir setzen uns für die Ermächtigung und Selbstbestimmung aller Frauen ein!
Deshalb wollen wir das Berliner Neutralitätsgesetz abschaffen. Das Bundesverfassungsgericht hat bereits 2015 die Rechtmäßigkeit eines pauschalen Verbots des Kopftuchs an Schulen hinterfragt. Jüngst hat das Bundesarbeitsgericht das pauschale Kopftuchverbot, das aus dem Berliner Neutralitätsgesetz folgt, als nicht verfassungskonform bezeichnet: Das Tragen eines Kopftuchs könne einer Lehrerin nur dann verboten werden, wenn belegt wird, dass sie durch ihr Verhalten konkret den Schulfrieden gefährden würde. Auch wir Grüne Frauen in Berlin haben 2018 in der Frauen*Vollversammlung festgehalten, dass der Streit um das Neutralitätsgesetz nicht weiter auf dem Rücken kopftuchtragender Frauen ausgetragen werden darf. 2019 haben wir uns im Bundesfrauenrat für die Selbstbestimmung von Frauen und gegen ein pauschales Verbot des Kopftuchs ausgesprochen. Dies gilt konsequenterweise für alle Bereiche (Schule, Rechtspflege, Polizei), wenn auch für Veränderungen in unterschiedlichen Bereichen unterschiedliche Prozesse benötigen werden.
Vor diesem Hintergrund setzen wir Grüne Frauen eine klare Botschaft: Für die Gleichberechtigung aller Frauen und gegen Bevormundung. Ein Kopftuchverbot im öffentlichen Dienst löst keine patriarchalen Strukturen, sondern führt zur Diskriminierung und Entmündigung von kopf-tuchtragenden Frauen.
Begründet wird das Gesetz damit, dass Menschen in staatlichen Institutionen keiner religiösen oder weltanschaulichen Beeinflussung ausgesetzt sein dürfen (d.h. es geht um den Schutz ihrer ‚negativen Religionsfreiheit‘). Eine solche Beeinflussung sieht das Gesetz im Tragen sichtbarer religiöser Symbole. Wir halten es jedoch für grundlegend falsch, eine mögliche religiöse oder weltanschauliche Beeinflussung allein auf Grund des Äußeren zu unterstellen. Auch gerichtlich wurde bereits festgehalten, dass keine abstrakte Gefahr von kopftuchtragenden Lehrerinnen nachgewiesen werden könne und damit die negative Religionsfreiheit nicht per se eingeschränkt ist.
Die Idee des Gesetzes ist, dass Staatsbedienstete in ihrem Auftreten ein bestimmtes Bild von vermeintlicher Neutralität verkörpern sollen. Wenn wir Neutralität und das Recht auf negative Religionsfreiheit fordern, müssen wir genauer hinschauen: Kein*e Lehrer*in, Richter*in oder Polizist*in ist vollkommen neutral und frei von eigenen Wertvorstellungen und Weltanschauungen. Dies ist auch keine Bedingung für den Staatsdienst. Kein Mensch legt ihr Äußeres oder ihre Weltanschauungen gänzlich ab, auch nicht beim Schlüpfen in eine staatliche Robe oder Uniform. Sowohl sexistisch und rassistisch zugeschriebene Merkmale wie Geschlecht und Hautfarbe, als auch Habitus aufgrund von Klasse oder kulturelle Symbole (wie zum Beispiel Eheringe) bleiben immer sichtbar oder fließen implizit in das Denken, Bewerten und das Handeln der Person ein. Neutral muss (und kann) nicht der Mensch sein, neutral muss der Staat gegenüber den verschiedenen Religionen und Weltanschauungen sein. Das bedeutet, dass er niemanden bevorzugen oder benachteiligen darf. Das ist der Kern des staatlichen Neutralitätsgebots. Dies bedeutet: Staatsbedienstete im öffentlichen Dienst können und müssen nicht neutral sein, sondern sich klar zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes bekennen. Das ist für alle Menschen Grundlage, um an staatlichen Schulen zu lehren oder in der Justiz tätig zu sein, um Bürger*innen zu beraten und zu schützen. Dieser Anspruch ist zum Beispiel für Lehrer*innen bereits im Beutelsbacher Konsens verankert und wird durch das Überwältigungs- und Missionierungsverbot gestützt. Und wir halten dies auch für wichtig. Dass allein ein sichtbares religiöses Symbol mit der Unfähigkeit gleichgesetzt wird, eine Berufstätigkeit auf Basis der Grundsätze unserer Verfassung auszuüben, halten wir Grüne hingegen für einen Trugschluss und diskriminierend.
Kopftuchtragenden Frauen wird durch das Neutralitätsgesetz entweder die freie Berufswahl im Sinne der freien Entfaltung ihrer Persönlichkeit verwehrt (Art. 2, Art. 12 GG) oder aber ihr Recht auf Religionsfreiheit (Art. 4 GG) und Diskriminierungsfreiheit aufgrund des Glaubens und der religiösen Anschauung (Art. 3 GG) beschnitten.
Zwar verbietet das Gesetz allen religiösen Gruppen das Tragen sichtbarer Symbole, aber nicht alle Religionen sind gleichermaßen von dem Verbot betroffen. Das Gesetz diskriminiert bestimmte religiöse Gruppen: Während ein Kreuz unter dem Hemd getragen werden kann und viele Religionsgemeinschaften auch gänzlich ohne Symbole leben, kann eine Kippa, ein Sikh-Turban oder eben ein Kopftuch nicht einfach unsichtbar gemacht werden, ohne die Person als solche aus dem öffentlichen Dienst auszuschließen. Das Gesetz diskriminiert deshalb solche Religionen, für die ein sichtbares Kleidungsstück Teil ihrer religiösen Ausübung ist. Es spricht Menschen, zu deren Religiosität bestimmte sichtbare Kleidungsstücke gehören, qua Äußerem die Fähigkeit ab, im besten Sinne des Staates hoheitliche Tätigkeiten ausüben zu können. In Berlin betrifft dies im Besonderen kopftuchtragende Frauen. Daher kommt das Neutralitätsgesetz einem partiellen Berufsverbot für sie gleich.
Unser grüner, intersektionaler Feminismus nimmt nicht nur individuelle, sondern auch strukturelle Diskriminierungen, wie sie zum Beispiel von Gesetzen ausgehen können, in den Blick. Deshalb sprechen wir uns entschlossen dagegen aus, wenn eine Gruppe von Frauen strukturell benachteiligt wird.
In der öffentlichen und politischen Debatte wird das Kopftuch zum Teil pauschal als anti-feministisch gehandelt. Dies sehen wir als eine diskursive Bevormundung. Es ist eine unangebrachte Verkürzung, das Kopftuch pauschalisierend als Zeichen patriarchaler Unterdrückung zu lesen – eine Lesart, die auch gerne von rechten Kräften gegen Muslim*innen genutzt wird und gegen die wir uns geschlossen stellen. Für unseren Feminismus ist Selbstbestimmung zentral: Wir bevormunden uns untereinander nicht, sondern stehen solidarisch nebeneinander. Dazu gehört: Jede Frau entscheidet selbst für sich, was sie tragen, woran sie glauben möchte. Wir schauen genau hin und diskutieren auf Augenhöhe, statt pauschale Annahmen über die Entscheidungen einer jeden von uns zu treffen. Denn wir setzen uns auf allen Ebenen für Solidarität, Selbstbestimmung und Empowerment ein.
Die vermeintliche Neutralität des Neutralitätsgesetzes bedeutet konkret, dass kopftuchtragende Frauen aus Teilen des öffentlichen Lebens ausgeschlossen und damit unsichtbar gemacht werden.
Wir wünschen uns stattdessen eine Stadt, in der die reale Vielfalt auch in allen Hierarchieebenen und Bereichen des öffentlichen Dienstes und in der Berliner Verwaltung eine sichtbare Vielfalt ist und entsprechend repräsentiert wird. Dabei geht es um elementare Grundrechte und gerechte Teilhabe von marginalisierten Gruppen. Es geht aber auch darum, dass eine sichtbare Diversität und die Repräsentation marginalisierter Gruppen an staatlichen Stellen unseren gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken. Gerade Kinder und junge Menschen sollen an Schulen ermutigt werden Vielfalt wertzuschätzen, Gemeinsamkeiten zu entdecken und stereotype Zuschreibungen, und Vorurteile und rassistische Denkmuster zu hinterfragen und aufzubrechen. Menschen auf ihr Aussehen oder ihre Kleidung zu reduzieren – wie zum Beispiel durch das Tragen eines als religiös markierten Symbols – wird der Vielfalt und Komplexität, in der wir leben, nicht gerecht. Religiösen Menschen per se abzusprechen, sie könnten nicht im Sinne des Staates handeln bzw. diesen verkörpern, ist im Kern antipluralistisch und antidemokratisch. Als intersektionale Feminist*innen denken wir insbesondere an die Herausforderungen, die Muslim*innen mit Kopftuch in unserer von Rassismus und Sexismus geprägten Gesellschaft erleben. Dabei wird klar: In öffentlichen Institutionen müssen Mechanismen, Regeln, Normen und Routinen, die kopftuchtragende Frauen systematisch ausschließen bzw. benachteiligen, abgebaut werden statt diese von bestimmten Funktionen auszuschließen.
Des Weiteren stehen wir dafür ein, mögliche Debatten im Umgang mit Religion insbesondere im Kontext der Schule nicht schlichtweg unsichtbar zu machen und damit zur Seite zu schieben. Statt Fragen rund um Religion und Weltanschauung durch die Verbannung sichtbarer Symbole beiseite zu schieben, muss die Schule zu einem Raum werden, in dem Debatten geführt und junge Menschen in ihrer Selbstbestimmung und ihren diskriminierungskritischen Kompetenzen bestärkt werden. Kindern und jungen Menschen ist wenig geholfen, wenn Kopftücher pauschal aus ihrem Schulalltag verbannt werden. Stattdessen braucht es gute Diversity-Konzepte an Schulen, sodass junge Menschen lernen, sich in wichtigen gesellschaftlichen Fragen selbstbestimmt zu positionieren. Das Recht auf negative Religionsfreiheit bedeutet nämlich nicht, Religion nicht sehen zu müssen. Es bedeutet vielmehr, dass wir in einer religiös- und weltanschaulich pluralen Gesellschaft nicht übermäßig bzw. unausgeglichen beeinflusst und damit in unseren Handlungs- und Entscheidungsoptionen eingeschränkt werden. Ein solcher bewusster und reflektierter Umgang muss gelernt werden – von Schüler*innen und auch von Lehrkräften.
Es geht auch um Vorbildfunktion: Für Frauen, die ein Kopftuch tragen, braucht es Ansprechpartner*innen und starke Vorbilder – mit und ohne Kopftuch. Hier können Lehrer*innen und Beamt*innen mit Kopftuch eine Chance sein – als Brückenbauer*innen und als Vorbilder.
Was wir für den Bereich der Schule argumentiert haben, gilt auch für die Justiz und die Polizei, auch wenn Staatsbedienstete dort in einem anderen Verhältnis zu Bürger*innen stehen. Wir sind davon überzeugt, dass Menschen nie neutral sein können, sondern sich in ihrer Rolle als Staatsbedienstete an demokratische Grundrechte und das Überwältiguns- und Missionierungsverbot zu halten haben und mögliche religiöse Debatten nicht durch die Verbannung sichtbarer Symbole gelöst werden. Dies gilt konsequenterweise für alle Bereiche, wenn auch für Veränderungen in unterschiedlichen Bereichen unterschiedliche Prozesse benötigen werden.
Aus diesen Gründen fordert die Frauen*vollversammlung/Frauen*konferenz von Bündnis 90/Die Grünen Berlin die Abschaffung des Berliner Neutralitätsgesetz. Sollte es 2021 zu Sondierung- oder Koalitionsverhandlungen unter grüner Beteiligung kommen, muss die Abschaffung dieses Gesetzes von besonderer Priorität sein.
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