Bericht über unseren Abend zur Position von Verbrechensopfern im Strafverfahren

10.06.13 –

Unser LAG-Mitglied Alexander Klose hatte wieder seinen Computer dabei und schrieb diesen ziemlich umfangreichen Bericht über den Abend:

 

Auf Einladung der Landesarbeitsgemeinschaft Demokratische Rechte von Bündnis 90 / Die Grünen diskutierten am 22. April 2013 Roland Weber, Opferbeauftragter des Landes Berlin, und Prof. Dr. Tobias Singelnstein, Juniorprofessor an der Freien Universität Berlin, über Opferrechte im Strafverfahren.

I. Rechtsanwalt Roland Weber ist Berlins erster Opferbeauftragter des Landes und wurde im Oktober 2012 vom Berliner Senat ernannt. Er arbeitet ehrenamtlich ohne Mitarbeiter_inen und schätzt, dass er etwa die Hälfte seiner Arbeitszeit für sein Amt als Opferbeauftragter verwendet. Die Einrichtung eines Opferbeauftragten geht zurück auf den Koalitionsvertrag der Regierungsparteien. Zuvor gab es keinen einheitlichen Ansprechpartner für vielfältige Bedürfnisse der Opfer von Straftaten. Das Amt soll die politische Aufwertung der Belange von Opfern unterstreichen.

Nach den ersten sechs Monaten sieht er seine Tätigkeit auf drei nebeneinander liegenden Ebenen:

1. Die direkte Arbeit mit Opfern, die sich per Mail, Post oder Telefon an ihn wenden:

  • Hier erfolge in erster Linie die Weitervermittlung an bestehende Beratungsstellen. In den ersten 6 Monaten habe er etwa ca. 200 Anfragen erhalten. Zum Teil legten Bürger_innen den Begriff des „Opfers“ zu weit aus und wandten sich auch bei Problemen z.B. mit dem Jobcenter an ihn.

  • Auch Botschaften würden sich an ihn wenden und ihm Beschwerden z.B. über staatliche Behörden übermitteln.

2. Überblick und Vernetzung bestehender Einrichtungen der Opferhilfe:

  • Auch gute Einrichtungen seien zum Teil noch unbekannt. Ausdrücklich erwähnt Weber hier die Medizinische Flüchtlingshilfe im Mehringhof, mit der er inzwischen eine Kooperation vereinbart hat.

  • Aus Gesprächen mit Sozialarbeiter_innen hat Weber erfahren, dass in der türkischstämmigen Bevölkerung großes Misstrauen gegenüber der Polizei besteht. Die Reaktion der Polizei sei gewesen: „Die wollen nicht, dass wir helfen.“ Das Verhältnis sei von gegenseitigem Misstrauen geprägt. In einem Gespräch mit dem türkischen Generalkonsulat hat Weber erfahren, dass eine „Hotline“ für türkischstämmige Opfer über Ankara und das Berliner Konsulat zu einem türkischsprachigen Rechtsanwalt bestehe. Ein Treffen in der Senatsverwaltung mit dem Generalkonsul habe zur Verabredung einer besseren Zusammenarbeit geführt, wozu die Bereitstellung von Informationsmaterial des Weißen Rings auch in türkischer Sprache im Konsulat gehört.

3. Verbesserung opferbezogener Aspekte im Landesrecht:

  • Weber sieht Verbesserungsmöglichkeiten des Landesrechts vor allem im Bereich der Vollstreckung: Ziel müsse eine intensivere Auseinandersetzung der Inhaftierten mit ihrer Tat sein. Doch was bringen die bestehenden Ansätze in der Praxis? Bei einem Besuch in der Sozialtherapeutischen Anstalt der JVA Tegel hat Weber von den dort tätigen Sozialarbeiter_innen erfahren, dass insbesondere Opfer von Sexualstraftaten keinen Kontakt mit dem Täter wünschten. Ganz anders sei dies bei den Tätern, die mit diesen Kontakten jedoch vor allem die Hoffnung auf eigene Entlastung („es geht dem Opfer doch gut“) verbinden würden.

Als weitere Aktivitäten nennt Weber die Verbesserung und Aktualisierung des Merkblatts der Polizei für Opfer von Straftaten und die eigene Öffentlichkeitsarbeit, wie den Aufbau einer Homepage, Beantwortung journalistischer Anfragen und die Wahrnahme von Einladungen.

II. Die Rolle von Opfern im Strafverfahrensrechts erläutert Prof. Dr. Tobias Singelnstein: Seit 1871 stehe im Zentrum der Strafprozessordnung die Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs und die Ermittlung der materiellen Wahrheit. Ein Wandel sei hier seit den 1980er Jahren zu beobachten: Beginnend 1986 mit dem Opferschutzgesetz, dann dem Verbrechensbekämpfungsgesetz und 2004 sowie 2009 mit den Opferrechtsreformgesetzen. Dadurch seien zahlreiche Rechtspositionen für die Opfer von Straftaten geschaffen worden:

  • Informationsrechte

  • Recht auf Beistand (schon bei der polizeilichen Vernehmung)

  • Akteneinsichts- und Anwesenheitsrechte von Nebenklageberechtigten

  • Zeugenschutzvorschriften (z.B. Ausschluss der Öffentlichkeit, audiovisuelle Vernehmung)

  • Ausbau der Nebenklage

Die praktische Bedeutung dieser Rechte sei unterschiedlich: Während Beteiligungsrechte weniger relevant seien, sei die Nebenklage heute fest etabliertes Element im Strafverfahren. Zurückzuführen seien diese Veränderungen auf eine gesamtgesellschaftlich veränderte Wahrnehmung der Rolle des Opfers. Singelnstein teilt die damit verbundene Problembeschreibung, fragt aber, ob das Strafverfahren für die Berücksichtigung von Opferinteressen der richtige Ort sei. Er sieht die folgenden Gefahren und Probleme:

  • Schieflage im Strafprozess: Die schon zuvor nur eingeschränkte Waffengleichheit im Strafprozess werde durch die Nebenklage noch weiter zu Lasten der Angeklagten eingeschränkt.

  • „Die“ Opferinteressen gebe es nicht; diese seien heterogen und würden von Hilfe und Unterstützung, über eine Entschuldigung des Täters bis zur Anerkennung als Opfer reichen; harte Strafe stünde dagegen häufig nicht im Vordergrund. Es bestünde die Gefahr, dass viele Opfer im Nachhinein vom Strafprozess eher enttäuscht würden.

  • Singelnstein befürchtet, dass der herrschende kriminalpolitische Diskurs über Opferrechte die verbreitete „schwarz-weiß“ Malerei noch fördert. Es gebe ein berechtigtes Interesse des Opfers an der Feststellung des Täters. Es bestehe jedoch die Gefahr, dass die Ursachen von Kriminalität in den Hintergrund geraten.

Unterm Strich sei festzuhalten, dass Deutschland seit 30 Jahren auf dem Weg zu einer populistisch geprägten Kriminalpolitik sei. Positiv an der Rechtsentwicklung seien die Stärkung von Opferschutz und Opferschonung. Zurückhaltend bewertet er dagegen die Beteiligungsrechte von Opfern. Opfer bräuchten Unterstützung und Hilfe, aber nicht unbedingt im Strafprozess

III. Dirk Behrendt, rechtspolitischer Sprecher der Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen im Abgeordnetenhaus, ergänzt einige Anmerkungen aus bündnisgrüner Sicht.

Ausgelöst und angestoßen worden sei die Diskussion über Opferrechte durch die Frauenbewegung mit Blick auf Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung. Die Grünen hätten traditionell große Sympathien für alternative Modelle wie z.B. den Täter-Opfer-Ausgleich (TOA). Ein besonderes Augenmerk grüner Politik liege auf gefährdeten Opfergruppen wie Illegalisierte, Obdachlose, Opfer von homosexuellen Übergriffen und Opfer von Polizeigewalt.

IV. Diskussion

  • Der Anregung, einen Hinweis auf den Opferbeauftragte auf die Homepage der Berliner Polizei zu setzen, entgegnet Weber, dies könne den falschen Eindruck erwecken, dass der Opferbeauftragte eine zusätzliche Beratungsstelle sei. Zumindest Hinweise auf bestehende Opferberatungsstellen, die sich auf der Homepage bisher nur unter dem Unterpunkt „Prävention“ finden, sollten aber leichter auffindbar sein.

  • Diskutiert wird die Einrichtung des „Zeugenzimmers“, das die Konfrontation zwischen Opfern und Tätern vor dem Gerichtssaal vermeiden soll. Eine Ausweitung sei wünschenswert, auch in Form getrennter Eingänge und getrennter Wartebereiche.

  • Ein weiteres Thema ist der Täter-Opfer-Ausgleich, der zunehmend auch im Rahmen der Vollstreckung erfolge. Obwohl 20-30 % der Verfahren grundsätzlich für TOA geeignet seien, werde diese nur in relativ wenigen Fällen durchgeführt.

  • In der Diskussion über die Frage, welche Interessen Opfer von Straftaten hätten, weist Weber darauf hin, dass nach seiner Erfahrung der Wunsch vieler Opfer eine klare Verteilung der Rollen sei. Eine Enttäuschung der Opfer im Strafprozess könne er nicht feststellen. Die Opfer von Straftaten wollten wissen, warum der Täter die Tat begangen habe. Die bisherigen Reformen beurteilt er als hilfreich, es sei aber ein gesamtheitlicher Ansatz im Sinne einer restorative justice erforderlich. Die Entwicklung dürfe aber auch nicht überzogen werden, z.B. im Bereich der Videovernehmung.

  • Ein weiteres Thema ist die Frage, wie Opferrechte in den vielen Fällen zur Geltung kommen können, in denen es überhaupt nicht zu einer Hauptverhandlung kommt. Hier gebe es die Forderung, dass Einstellungen durch die Staatsanwaltschaft nur mit Zustimmung der Opfer erfolgen dürften. Für Singelnstein ist die zu beobachtende Entwicklung, wonach die Hauptverhandlung – mit ihren Rechten nicht nur für Opfer sondern auch für Täter – immer stärker vom Regelfall zur Ausnahme werde, eines der grundsätzlichen Probleme des deutschen Strafverfahrens.

  • In einem weiteren Diskussionsbeitrag wird die Notwendigkeit eines Opferbeauftragten hinterfragt. Beauftragte würden in der Regel dort eingerichtet, wo asymmetrische Machtverhältnisse bestünden, wie z.B. zwischen den Geschlechtern (Frauenbeauftragte) oder zwischen Staat und Bürger_innen (z.B. Datenschutzbeauftragte). Dies treffe auch auf den Opferbeauftragten zu, soweit er sich um Opfer ohne gesicherten Aufenthaltsstatus, von Polizeigewalt und Diskriminierung kümmere. Es stelle sich aber die Frage der Berechtigung eines solchen Amtes dort, wo diese Asymmetrie nicht bestehe, sondern wo der Staat mit seinen Sicherheitsbehörden grundsätzlich auf der Seite der Opfer stehe. Dabei sei auch die soziale Selektivität des Ermittlungs- und im Strafverfahrens zu berücksichtigen, die dazu führe, dass vor allem Täter_innen mit einem geringen sozialen Status vor Gericht und in den Gefängnissen landeten. Zugespitzt stelle sich die Frage, ob zunehmende Opferrechte nicht in Widerspruch zur historischen Errungenschaft des staatlichen Strafmonopols gerieten. Die Beteiligung von Opfern sei allerdings dort sinnvoll, wo sie mit dem Ziel der Strafvollzugs, der Resozialisierung des Täters, im Einklang stehe. Darüber hinaus sollten die Belange von Opfern vor allem im Zivil- und Sozialrecht berücksichtigt werden.

  • Zur Sprache kommt schließlich auch die geringe Vergütung von Rechtsanwält_innen, die vom Gericht zum Beistand für Opfer bestellt werden. Die Pauschale i.H.v. 168 €, die nach der Rechtsprechung des Kammergerichts in besonders zeitaufwändigen Fällen auf 755 € aufgestockt werden könne, führe zu einer geringen Bereitschaft der Anwaltschaft, eine Beistandschaft zu übernehmen

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Weitere Informationen

Wikipedia über Täter-Opfer-Ausgleich 

Joachim Herrmann: Die Entwicklung des Opferschutzes im deutschen Strafrecht und Strafprozessrecht (ZIS 3/2010) 

Sven Peitzner: Opferrechte im Strafverfahren (Berliner Forum Gewaltprävention, BFG Nr. 27) 

Bundesministerium der Justiz: Opfer-Fibel (2012)